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Boris Jordan

Maßgebliche Musiken, merkwürdige Bücher und mühevolle Spiele - nutzloses Wissen für ermattete Bildungsbürger.

27. 10. 2016 - 11:02

"Wenn du alt und fad bist, bist du alt und fad"

Das 76-jährige Alterswunder Seasick Steve "rockt" heute den Gasometer Wien.

Der 76-jährige Kalifornier Steve Wold ist seit einiger Zeit unter dem Namen Seasick Steve einem größeren Publikum bekannt. Seasick Steve kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken, er war Farmer, Taglöhner, Cowboy, Straßenmusiker, Musikproduzent, Vater von 5 Söhnen, rastloser Reisender und Bewohner von 59 verschiedenen Wohnorten - bis er sich im Alter von 63 Jahren entschloss, endlich sein Debütalbum aufzunehmen.

Ein paar Radiointerviews und ein Auftritt in der legendären Jools Holland Show in der BBC später darf sich Seasick Steve zu den bekanntesten Blues-Musikern der Welt zählen, er spielt bei Riesenfestivals wie dem Fuji Rock in Japan, dem Roskilde Festival in Dänemark und dem Flaggschiff der britischen Festivaltradition, dem ehrwürdigen Glastonbury Festival. Im Oktober wird er das Londoner Wembley Stadion bespielen, um sein neues Album zu bewerben, das den ebenso vielsagenden wie schwer zu merkenden Titel "Keeping the Horse between me and the Ground" trägt.

Heute spielt Seasick Steve im Wiener Gasometer.

Seasick Steve mit Gitarre auf der Bühne

CC BY 2.0 von Bryan Ledgard flickr.com/ledgard/

CC BY 2.0 Seasick Steve 2010

Seasick Steve ist mit 76 nicht der älteste Rockstar der Welt, sicher aber derjenige unter seinen Zeitgenossen, der die kürzeste Karriere hinter sich hat. Gerade mal 13 Jahre hat es gedauert, vom selbst aufgenommenen Album mit norwegischer Rhythmusgruppe bis zu Auftritten mit Jools Holland, John Paul Jones von Led Zeppelin oder Paul McCartney.

Eine Karriere?

Seine Karriere ist einerseits ein kurzes Aufflackern von Popularität am Ende seines Lebens, so dass man von einer richtigen Karriere gar nicht sprechen kann, andererseits ist ein so märchenhafter, kometengleicher Aufstieg einem Mann seines Alters nicht gerade häufig passiert.

Man mag einwenden, dass es sich hier um einen klassischen Fall von "Novelty" handelt, von einem oberflächlichen, augenzwinkernd-modischem Zeitphänomen, das den alten Rauschebart in der Zeit der jugendlichen Rauschebärte nach oben gespült hat. Es mag auch mitspielen, dass seine Musik, der Blues, gemeinhin mit alten Männern assoziiert wird, sodass seiner Musik hier eine zusätzliche Gratis-Glaubwürdigkeit verliehen wird, die sie gar nicht verdient hat – schließlich war der Blues schon eine Alte Musik als Gruppen wie Cream oder die Rolling Stones sich seiner bedienten und – wie jene – auch Seasick Steve selbst noch ein junger Mann war. Seine Erklärung für die Beliebtheit seiner Musik ist – nicht sehr überraschend – eher bodenständig:

"Es ist gar nichts Geheimnisvolles daran: Meine Zehen stecken im Dreck, ich spiele von Unten, vom Dreck aus. Alles, was an mir gut ist, kommt von dort, vom Dreck, es hat nichts damit zu tun, dass ich ein besonders guter Gitarrist wäre. Ich bin nicht so gut, aber ich meine das, was ich tue, und anscheinend hat das eine Bedeutung. Ich habe das früher gar nicht gewusst, sonst hätte ich schon vor langer Zeit reich sein können."

Altersschrulligkeit

Ganz unschuldig wird die sympathische Altersschrulligkeit, die von diesem netten Kauz ausgeht, auch an seinem Erfolg nicht gewesen sein. So ist Seasick Steve dafür bekannt geworden, dass er gerne Instrumente aus der Frühzeit des Blues nachbaut. Er besitzt ein berühmtes, viersaitiges Instrument, das er aus einer alten Radkappe und einem Palatschinkenwender gebaut hat, ebenso, wie den berühmten Diddley Bow, von dem sich der gleichnamige Rock’n’Roll-Pionier den Namen geborgt hat, freilich ohne ihn je selbst gespielt zu haben.
Nicht nur für die alten Bastelinstrumente ist Seasick Steve bekannt geworden – neben dem "der spät berufene Alte mit dem Rauschebart" war er auch "der Mann mit den billigen Kaufhausgitarren" oder auch "der Mann mit der dreisaitigen Gitarre" – eine Sache, die noch einen pragmatischen Grund hat:

"Das kam von der Straßenmusik. Wenn mir eine Saite gerissen ist, musste ich dennoch weiterspielen, sonst gab es nichts zu essen. So habe ich herausgefunden, wie man so lange spielt, bis nur mehr eine Saite da ist. Es gab damals auch nicht so viele Musikgeschäfte, man musste weitermachen. Ich mag auch die billigen Gitarren. Ich habe nichts gegen die guten, aber richtig gemocht hab ich sie nie. Wenn ich in ein Gitarrengeschäft gehe und eine der teuren ausprobiere, komme ich mir zuerst wie ein Verräter vor, so wie wenn ich meine Frau zuhause gelassen hätte, um mir ein neues Mädchen zu suchen, das fühlt sich nicht gut an. Die Gitarren, die ich habe, sind meine Freunde und dann gehe ich raus und suche mir neue Freunde? Sie sind alle nicht sehr gut, manche sind richtig schlecht, auf ihnen zu spielen ist ein bisschen ein täglicher Kampf – manchmal gehen die Dinger einfach aus dem Leim. Das hält einen bescheiden, das mag ich."

Ein Leben "on the road"

Eine Liebe in dem bewegten Leben des Seasick Steve, neben der Musik, gehört der Bewegung. Rastlos ist er in den Sechziger Jahren in den USA und Europa unterwegs, lange verdient er sich als Straßenmusiker sein Geld. Das Herumziehen von Ort zu Ort, einer der zentralen Topoi des Blues, wird für den jungen Steve zum Lebensinhalt, sei es auch nur, weil das Gras auf der anderen Seite grüner sein könnte.

"Ich war unterwegs gewesen, seit ich ein Kind war. Ich war abhängig vom Unterwegs-Sein [...] und für mich hat es sich dann auch so ergeben: Das Gras war tatsächlich grüner. Ich wusste, irgendwann, hinter einer Kurve würde es grüner werden, und ich sage dir, jetzt ist es wirklich grün. Das hat mit hier zu tun, mit Europa. Ich erinnere mich, dass Leute wie Fred McDowell und T- Bone Walker in den Sechzigern nach Europa kamen und sich die unglaublichsten Dinge erzählten. T- Bone Walker sagte Sachen wie 'Man stelle sich vor, wir wurden bezahlt! Die Leute im Publikum trugen Anzüge! Und sie haben geklatscht!' – diese Leute waren dermaßen an Rassismus gewöhnt, das war nicht mal das Thema. Aber sie haben geklatscht. Ich hatte damals nicht daran gedacht, dass aus mir mal was werden würde – aber nachdem sich mein Erfolg eingestellt hat, dachte ich oft daran und dass das nun alles mit mir passiert, man gibt mir Geld und man applaudiert mir, das Gras ist grüner und ich habe eine tolle Zeit."

Seasick Steves Liebe zum Image des wurzellosen Vagabunden, der rastlos herumirrt, hat ihn dazu gebracht, das wohl bekannteste amerikanische Vagabunden-Lied "Gentle On my Mind" aufzunehmen, und er war wohl ziemlich überrascht, von wem dieses Lied unter anderen hierzulande populär gemacht wurde:

"Dean Martin? Du wirst es nicht wissen, aber John Hartford schrieb 'Gentle on my Mind', es ist eines der größten Hobo-Lieder über das Unterwegs-Sein, es ist das beste Lied überhaupt, wenn man die Worte hört, das hat mit Schmalz nichts zu tun, Dean Martin hat sicher nie in einem Eisenbahnwaggon gelegen. Ich habe das Lied 1967 gelernt, als es rausgekommen ist, ich war selber Autostoppen, als ich es hörte, und ich war geplättet. Ich dachte, dieses Lied ist mein Leitmotiv. Und dazu kommt: wann wenn nicht jetzt sollte ich sonst noch Lieder aufnehmen, die ich mag? Ich bin auch nur ein Typ mit Lieblingsliedern."

Zeit für einen Protestsong

Seasick Steve, in all seiner schicksalsergebenen Dankbarkeit und altersmilden Sanftheit, bezeichnet sich selbst als Unterhaltungskünstler, der seinem Publikum verpflichtet ist. Dennoch, eine Anekdote, die seinem norwegischen Schlagzeuger passiert ist, hat diese Idylle für kurze Zeit unterbrochen:

"Ich habe noch nie zuvor einen Protestsong geschrieben, aber dieser hier handelt im Speziellen von Leuten, die ihr Geld in Panama verstecken. Ich hatte das gehört und zur selben Zeit hat mein Schlagzeuger Dan – mein Schlagzeuger ist ein echter Idiot, der nicht 2 und 2 zusammenzählen kann – jedenfalls hatte er keine seiner Steuern gezahlt, nicht um was zu verstecken, er hatte einfach geglaubt, er müsse keine Steuern zahlen ... Also kommen die und nehmen ihm sein Auto weg, einen alten Volvo, der nichts wert ist. Ich meine, er ist arm, bei ihm gibt es nichts zu holen, er lebt wie ein Hillbilly irgendwo am Land, und diese Typen nehmen seinen 2001er Volvo weg, der nichts wert ist – zugleich habe ich von all den reichen Leuten erfahren, die ihr Geld in Panama verstecken, damit sie keine Steuern zahlen müssen, und das Lied ist nur so aus mir rausgeplatzt. Ich schreibe Songs zur Unterhaltung und um Geschichten aus meinem Leben zu erzählen, aber an diesem Tag war ich so wütend, weil sie Dans Auto genommen hatten, während diese Schweinehunde ihr Geld in Panama versteckten, womöglich waren das sogar dieselben Leute."

Dieses Malheur hat ihn dazu gebracht, ein richtig kämpferisches Protestlied im Geiste von Leadbelly oder Buffy Sainte-Marie zu schreiben. Hier herrscht ein dunkler Ton, die Bösen werden angeklagt, die Wut bricht sich Bahn, den "Großkopferten" wird direkt die Hölle in Aussicht gestellt , wo sie ihre Sünden abbüßen würden, sie, die sich für etwas Besseres halten. Hier bekommt der freundliche Herr einen diabolischen Ton, der sich in ein Fanal hineinsteigert, das nicht ohne Grund "Hell" heißt und zum stärksten Song auf dem Album geworden ist.

Verbindung über Generationen hinweg

Ein gewisser Zeitgeist hat wohl auch einen Anteil an der der Beliebtheit, die Seasick Steve nahezu einhellig entgegengebracht wird. Ein Zeitgeist, der die Popmusik von ihrer Metapher der explosiven Jugendlichkeit entfremdet und zu etwas Historischem gemacht hat. Neueste Trends und Entwicklungen sind auf Internetplattformen direkt neben historischen Aufnahmen zu finden, alle genau gleich weit, nämlich genau einen Klick voneinander entfernt, niemand muss suchen oder kontextualisieren – was auch dazu führt, dass junge Leute sich eine höchst unmittelbare Verbindung zu vergangenen Epochen erarbeiten können, sodass am Ende dann nur noch der vom Kontext getrennte, unmittelbare Unterhaltungswert zählt oder, wie Seasick Steve sich ausdrückt, ob du "rockst".

"Da hat sich wirklich was geändert, ich glaube nicht, dass das etwas mit mir zu tun hat, aber es ist definitiv zu einer Zeit passiert, als auch mein Erfolg begonnen hatte. Da ist etwas passiert, dass sogar ich spielen und im Fernsehen auftreten konnte, es ist etwas Atmosphärisches, das sich geändert hat. Junge Leute wie meine Kinder hören die Doors und alte Musik und es besteht eine gewisse Verbindung über die Generationen hinweg. Am Ende geht es wohl darum: Wenn du rocken kannst, dann rockst du auch. Wenn du eine Comeback-Tour als Ewiggestriger machen willst, werden eben nur alte Leute zu deinen Shows kommen, da hat sich nichts geändert: Wenn du alt und langweilig bist, bist du alt und langweilig."