Erstellt am: 26. 10. 2016 - 03:00 Uhr
FM4 Schnitzelbeats #1: Dialekt im Pop
- Die FM4 Schnitzelbeats zum Nachhören!
Sittenlose Schauplätze, exzentrische Außenseiter und groteske Artefakte begegnen uns auf einer Talfahrt durch die abseitigsten Kapitel österreichischer Pop- und Underground-Musik-Geschichte. Das Stöbern in den lokalen Archiven erweist sich als zeitfressende und lohnende Angelegenheit und befördert völlig obskure Recording Artists mit ebenso obskuren Lebensgeschichten zutage. Die hier vorgestellten Tonaufnahmen sind schillernd und visionär, blieben in einem größeren, populären Diskurs allerdings oft unsichtbar.
Einige wegweisende Veröffentlichungen heimischer Musikgeschichte erschienen zudem nur in kleinen Stückzahlen und sind heute – nur mit sehr viel Glück – in aller Herrgottsfrühe auf Flohmärkten oder zu einschlägigen Sammlerpreisen auf Tauschbörsen zu bekommen. Der Wiener Kulturinitiative Trash Rock Archives ist es in jahrelanger Recherche und akribischer Erfassung relevanter Vinyl-Tonträger gelungen, einen nahezu vollständigen Bestand österreichischer Musikproduktion ab dem zweiten Weltkrieg zu sichern. Willkommen bei FM4 Schnitzelbeats!
Eine selten erzählte Geschichte ist die der beiden exzentrischen Wiener Songwriter Bruno Hauer und Josef Kaderka, die bereits mit ihrer ersten gemeinsamen Produktion Zwa Bleamerln steh'n am Wiesenrand im Jahr 1946 einen regionalen Smash-Hit landen konnten. Die Besonderheit: Der Song war ein moderner Tango. Ein Tango auf Wienerisch. Das lustvolle Bestreben der beiden Komponisten, durch die unverbrauchte Kombination von Dialekt und tanzbarer Musik Neuland zu erobern, ist im Grunde die Essenz der heimischen Dialektwelle, deren Ursprung man für gewöhnlich aber erst in den späten 1960er Jahren verortet. Pop made in Austria.
Die Verschränkung bis dato artfremder Elemente – Mundart trifft Tango / regional trifft international – ist gleichzeitig "Novelty music" in Reinkultur, also genau das, was auch die erfolgreichsten amerikanischen oder englischen Genre-Schöpfungen stets mit sich brachten und in weiterer Folge auch mit sich bringen würden. Musik, die aus vordefinierten Grenzen ausbricht, mit der eigenen Tradition und Sprache spielt, das Publikum vor den Kopf stößt und es dabei gleichzeitig zum Tanzen bringt - und somit vielleicht etwas wie die Ur-Ur-Ur-Großmutter des sogenannten "Austropop": ein Tango mit Dialekttext. Hut ab, meine Herren!
Zumeist als Jazz-Parodist oder gar als vergnügliche Show-Einlage angekündigt, bediente sich der exaltierte Wiener Entertainer Dolf Kauer bereits in den frühen 1960ern eines zeitgemäßen Schlagerrepertoires, das er im breitesten Dialekt zum Besten gab. Ein wirkungsvolles Rezept, das in der österreichischen Popgeschichte bekanntlich noch öfters – wenn auch erst einige Jahre später – zu breitenwirksamer Anwendung gelangen würde. Der einzig erhaltene Beleg der erstaunlichen Pionierarbeit des Dolf Kauer stammt aus dem Jahr 1962, als er vom stadtbekannten Songwriter-Duo Bruno Hauer und Josef Kaderka (siehe oben) zu einer spontanen Recording Session eingeladen wurde. Die auf diesem Wege entstandene Aufnahme, Blue-Jean-Jack aus Meidling ist eine intensive Rock'n'Roll-Kuriosität mit einschlägigem Lokalkolorit und klingt oberflächlich betrachtet wie ein obskurer Antwortsong auf die Gerhard Bronner-Komposition Der Halbwilde.
Doch gleichzeitig erreicht der Song eine seltsame Metaebene der Patronanz und Fürsprache für jugendliche Teenager-Gegenkultur der Zeit. Aus der sturen Sicht des rebellischen Titelhelden schildert der Song den Tagesablauf eines proletarischen Halbstarken aus Wien, der keine Gelegenheit auslässt, seine gutbürgerlichen Mitmenschen zu provozieren: Er steht auf US- amerikanisches Wild-West-Kino, Rock'n'Roll-Musik, trägt ausrangierte Lederjacken, veranstaltet illegale Motorradrennen und verabscheut das Militär. Und dann kommt – womöglich überraschend – der Schlüssel-Satz:
Vielleicht bin i a nur so außen, a guader Kern steckt in mir drin.
Von heut auf morgen kann i’s ned ändern, weil i der Blue-Jean-Jackie bin.
Ein wichtiges Zeitdokument, dessen bloße Existenz österreichische Popgeschichte um eine gänzlich neue Dimension erweitert. Der Blue-Jean-Jack aus Meidling ist gewissermaßen das Herzstück jeder Schnitzelbeat-Sammlung.
- Die FM4 Schnitzelbeats zum Nachhören!
Franz Bilik war nicht nur ein frühes Mitglied der Wiener Artrock-Band Drahdiwaberl, sondern auch ein Urvater der kritischen Liedermacher und wie von etlichen Zeitzeugen oft betont wird, einer der wichtigsten Wegbereiter der österreichischen Dialektwelle, die wiederum den Ausgangspunkt des kommerziellen "Austropop"-Phänomens darstellt. Geboren in Wien im Jahr 1937, spielte Bilik bereits als Teenager die Geige im Orchester der Jeunesse Musicale. Sein Interesse am Jazz erwachte früh und führte ihn in die verrauchten Keller der Stadt, wie etwa den "Hot Club de Vienne", wo er sich rasch mit Gleichgesinnten vernetzte. Er wurde in den späten 1950er Jahren Mitglied der Blue Danube Stompers, tauschte die Geige gegen die Gitarre ein und gründete mit Freunden die Barrelhouse Jazzband. In jenen Jahren begann Bilik damit, seine eigenen Konzerte mit rhythmischen Sprechgesangseinlagen zu erweitern, bis er Ende der 1950er Jahre auch erstmals als Sänger auftrat – mit eigenen Texten im Dialekt.
In der kleinen Wiener Jazz-Szene war Bilik rasch ein Star und wurde aufgrund seines bissigen Humors und Einfallsreichtums geradenach verehrt. Mit den 1960er Jahren machten seine Liedtexte schließlich die Runde und wurden von regionalen Folk- und Popbands, wie der Worried Men Skiffle Group oder One Family, adaptiert, die ihrerseits schon bald mit Plattenverträgen und Radio-Airplay punkten konnten. Bilik blieb indes stets im Hintergrund und in der medialen Berichterstattung damaliger Tage unsichtbar. Ein lokaler Underdog mit Legendenstatus. Die Überraschung war groß, als er sich Ende 1972 schließlich aufraffte und im Studio einschloss, um sein eigenes Songmaterial nun auch für die Nachwelt zu konservieren. Seine einzige LP erschien in kleiner Auflage und ist ein subversives Meisterwerk. Wir hören einen der bedeutendsten Pioniere der heimischen Dialektwelle mit einem brauchbaren Gegenentwurf zur österreichischen Bundeshymne, dem Titeltrack des Albums "Pfui Teufel, mir graust".