Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Todo es mi familia"

Lisa Schneider

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3. 11. 2016 - 12:42

Todo es mi familia

Die Crystal Fighters feiern auf ihrem neuen Album "Everything Is My Family" eine multinationale Trash-Party for everyone, im Herzen bleiben sie moderne Technopop-Hippies.

Wer kann sich an den Moment am FM4 Frequency Festival erinnern, als auf einmal lauter nackte Menschen die Bühne bevölkert haben? Nackte Füße, Hintern, Arme, Brüste, alle Hand in Hand, tanzend, Blumenkränze überall. Ich erinnere mich, es war ein gleichermaßen schöner wie befremdlicher Moment. So wenig gern ich meinen vormals Stehnachbarn beim Konzert nun nackt auf der Bühne auf- und abhüpfen sehen wollte, so sehr freute ich mich mit ihm, dass er sich so freut.

Die Crystal Fighters, das ist so eine Band, die Euphorie aus- und Hemmungen auflöst.

Crystal Fighters

Jackson Grant

Passend in der heißen Nachmittagssonne haben sie die Techno-Ode an ihre Wahlheimatstadt „I Love London“ hinausgepulvert, danach kam dann gleich der liebliche Aufruf zum Strandspaziergang „Plage“. Sind ähnliche Bühnenshows – und vor allem ähnliche Songs – in einer Mixtur aus Softtechno, Indie-Elektropop und Folkballade auch von und nach ihrem neuen Album „Everything Is My Family“ zu erwarten?

Ja und nein.

Aber mehr ja.

Noch mehr gute Musik...

gibt's hier.

Don't ever look back

Vor zwei Jahren starb der Schlagzeuger der Band, Andrea Marongiu, unvorhergesehen an einem Herzfehler. Während der Tour zum Erfolgsalbum „Cave Rave“. Aus Schicksalsschlägen und Trauerfällen ist nicht nur einmal große Kunst entstanden, aber so denken Crystal Fighters sichtlich nicht. Die neuen Songs sind kein Klagen, keine Nostalgie, kein Verklären oder gar ein Beweinen – auch, wenn der closing song „Lay Low“ dem Verstorbenen gewidmet ist.

Crystal Fighters

Markus Werner

Sehr sympathisch klingt Sänger Sebastian Pringle am Telefon, zwar nicht wie der Junge von nebenan, aber wie der zwar seltsame, umso liebenswürdigere Freund desselben. Er erzählt, er und Graham Dickson, hauptverantwortlich für die Entstehung der Crystal Fighters-Songs, sind diesmal getrennt auf Reisen gegangen.

Dass Touren nicht dasselbe ist wie Reisen, weiß die Band nach nicht nur einer ausgedehnten Welttournee – und wie wichtig ihnen die Natur als Hauptinspirationsquelle ist, spätestens seit der Arbeit am neuen Album.

To live barefoot, round campfires, in tents, being inspired by the sound of the river, the birds, the stars above you, the moon! Just really try to engage with this universal picture that you have when living in nature and surrounded by everything being your family – this is also what the album title is about. About feeling harmonious when completely living in nature.

Als hätten Crystal Fighters ihr Bild als hippieske Helden des folkloristischen Elektro-Indiepop nicht schon genug gefestigt, inkludieren sie jetzt nämlich nicht nur sich selbst und ihre Fans, sondern alles und jeden in ihre Musik.

Everything, everyone, every plant, every insect, every drop of water, every molecule – we are all part of this amazing kind of connected organism that is the universe, even though if we have spread far away from that moment, if you want to call it the big bang, we are all connected and responsible for each other, it’s an open ended idea. Todo es mi familia, everything is my family.

Hippie-Blumenkranz und Punkattitüde

Cover "Everything Is My Family"

PIAS

"Everything Is My Family" von Crystal Fighters ist bei PIAS erschienen.

crystalfighters.com

Wie ihre Bühnenshow, wo gern blumengeschmückt, mit wallendem Haar und Händchen haltend musiziert, genauso aber zum Moshpit angefeuert, zu Deeptechno-Beats getanzt und vor allem gefeiert wird, ist auch das neue Album. Der Opener ist tatsächlich ein buddhistischer Prolog, ein rein gesprochenes Stück, und das nicht von den Crystal Fighters selbst, sondern von zwei Predigern, die Sebastian auf seiner Reise unter anderem durch Mittelamerika aufgenommen hat.

The speech is about the idea of detaching from your feelings, being in the present moment and able to accept tragedy and problems and able to let go when in need of.

Field recordings haben die neuen Songs maßgeblich beeinflusst, auch neue, kaum auszusprechende Instrumente, zusätzlich zu den schon bekannten Stars der Vorgängeralben wie dem Banjo oder der Ukulele. Neu war außerdem, dass die Crystal Fighters ohne einen Produzenten, der eine Richtung vorgegeben hat, gearbeitet haben. Und, dass das meiste sehr spontan, ad hoc, im Kasten war. Reisen, inspirieren lassen, ins Studio, los geht’s.

Crystal Fighters

Markus Werner

Das klingt alles sehr knackig-knusprig, Sebastian Pringle erzählt weiter, auch wenn die Erfahrungen in kurzlebiger Manier verarbeitet wurden, war das Tüfteln an den einzelnen Songs nicht nur eine befreitere, sondern auch eine viel experimentellere Challenge. Auf der Suche nach der passenden Hook, zum passenden „dance bit“ – um dann den „most interesting dancefloormoment“ zu erzeugen. Ob ihnen das ihrer Meinung nach gelungen ist, wollen die Crystal Fighters lieber ihre Fans beurteilen lassen.

Crazy in love and music

Die Synthesizer werden aufgedreht, Songs wie „All Night“ treiben die sympathische Unruhe, die diese Band mit sich bringt, über die Spitze hinaus. Dabei ist das Album, in seinen Grundzügen, so verrückt wie einfach. Eingängige Hooks, die Aufforderung zur Party, egal, ob tagsüber oder nachts. Manchmal endet das in einem Ausrutscher ins eher schlechte Deephouse-Fettnäpfchen, bei dem sogar David Guetta sich die Facepalm nicht ersparen könnte („In Your Arms“), oft entstehen aber aus denselben Zutaten lieblich-zuckrige Sommerhits („Ways I Can Tell“), zu denen der Cocktail schon ganz gut schmecken sollte.

„The Moondog“ packt den Chor zur Gänsehautatmosphäre aus, „Yellow Sun“ ist nach dem Opening Track das erste Singalong, das vom Wiederauferstehen, Weiterleben oder Nieweggewesensein der Band predigt. Wenn irgend möglich, ist die Band noch verrückter, noch eklektischer, noch ekstatischer geworden.

Crystal Fighters live

Am 5. 11. spielen Crystal Fighters im Wiener Gasometer.

Alle weiteren Tourdaten gibt es hier.

Crystal Fighters kratzen nicht am Grat von Schön zu Kitsch, sie lachen ihn aus, spucken zur Seite und springen mit Hochstab darüber hinweg. Was klingt wie die furchtbare Vorahnung auf eine Setlist, die man beim klassisch-amerikanischen Highschool-Prom wird ertragen müssen, ist aber in gewissem Sinne hohe Kunst.

Hat man die Crystal Fighters in ihrem eigens kreierten, irrationalen, aber genialen Wahnsinn verstanden, ist die beste Bad Taste-Party seit langem eröffnet.