Erstellt am: 23. 10. 2016 - 17:52 Uhr
Dream, Baby, Dream
Elevate Festival
Das Festival für elektronische Musik und politischen Diskurs findet von 20. bis 23. Oktober in Graz statt.
Das gesamte Diskursprogramm ist bei freiem Eintritt im Forum Stadtpark zu besuchen.
Egal, wieviel visionären Pop, weltumspannenden Kraut und die Gehirnzellen durchwalkenden Techno man im jeweiligen Elevate-Lineup eines Jahres findet, spätestens in der dritten Nacht kann man sich auf den kleineren Floors traditionellerweise eine Dosis Seelenkatharsis abholen.
Die groben, als ob gerade erst in den Stein gehauenen Mauern des Schlossberges, die dort noch nicht wie im Dom durch weiße Tünchfarbe trockengelegt und gebändigt wurden, erweisen sich einmal mehr als die ideale Kulisse für all jene Musiken, die an Forschungen in der Nähe irgendwelcher Oberflächen nicht interessiert sind, sondern direkt zu Mark, Bein und den tiefsten Urgefühlen des Unterbewusstseins vordringen wollen. Sie schaffen es auch heute wieder, dass man angesichts der erlebten Kompromisslosigkeit der künstlerischen Ansätze und Brutalität der Klänge beginnt, sein eigenes Inneres von Grund auf neu zu ordnen.
Elevate / Clara Wildberger / CC BY-NC-ND 2.0
Elevate / Clara Wildberger / CC BY-NC-ND 2.0
Die vorangegangenen Festivalnächte - und für gar nicht wenige Menschen: auch -tage, denn abgesehen vom Diskursprogramm erfreuen sich in Graz auch die Afterhours großer Beliebtheit - stehen den Menschen im Publikum am Samstag doch schon recht deutlich ins Gesicht geschrieben. Die Geister der Erschöpfung kann man sich aber gleich zu Beginn von Gregor Ladenhauf und Manon Liu Winter austreiben lassen, denn sie führen im Elevate-Dungeon eine Komposition von Elisabeth Schimana mit dem zauberhaften Titel "Höllenmaschine" auf.
Ihr dafür auserwähltes Intrument ist das sogenannte Moogtonium, ein von Bob Moog höchstpersönlich gebauter, einzigartiger Synthesizer mit einer "besonderen Synthesearchitektur", so hört man, und wunderschön anzusehen ist er auch noch. Die Höllenmaschine kann nicht nur fauchen und brüllen, sondern eigentlich stellenweise auch freundlich glucksen, und zwei Überkopf-Kameras lassen die Zuseher in der Felshöhle an den Geschehnissen rund um die Kabel des Zauberwerks teilhaben.
Später in der Nacht steht auf derselben Bühne ein Mann, der seine Kräfte seit über dreißig Jahren in den Dienst von Lautstärke und Zerstörung stellt. Zu den wichtigsten Stationen im musikalischen Leben des Justin K. Broadrick zählen etwa die Grindcore- und Industrial-Metal-Legenden Napalm Death und Godflesh, seine Post-Rock- und Metal-Drone-Unternehmung Jesu, sein "Popprojekt", wie er sagt, und noch eine kaum überschaubare Zahl an Produzenten-Aliassen mit Namen wie White Static Demon, Mindless Scum oder Techno Animal.
Elevate / Clara Wildberger / CC BY-NC-ND 2.0
Elevate / Clara Wildberger / CC BY-NC-ND 2.0
Zum Elevate Festival ist Justin K. Broadrick mit seinem Dancefloor-lastigsten Alter Ego JK Flesh angereist. Schwankende Gestalten schnappen im Stroboskop-Nebel nach Luft, wenn die Schläge seiner Bassdrum aus den Boxentürmen knallen. Er hat keine Eile. Was zwischen den Schlägen 1, 2, 3 und 4 rhythmisch und soundästhetisch alles möglich ist, weiß JK Flesh genau, und er nimmt sich Zeit, die Textur dieses einen Dröhnens oder jenes anderen Brummens genau zu erforschen. Zum Tanzen ist sein Set in etwa das Gegenteil der Footwork-Eskapaden, die zeitgleich auf dem Tunnel-Floor stattfinden, denn während man sich unten vor lauter Zappeligkeit des Beats nur auf jeden zweiten Schlag im Takt bewegen kann, um überhaupt mitzukommen, wippt man hier nicht selten im doppelten Tempo.
"Worship Is The Cleansing Of The Imagination" heißt eine Veröffentlichung von JK Flesh. Es ist Musik, die praktisch das Gegenteil von Hedonismus verkörpert und doch zu den gleichen, den rauen Boden unter den Füßen erschütternden Glücksgefühlen führt. Ein absolutes Highlight des Elevate-Wochenendes.
Elevate / Jola / CC BY-NC-ND 2.0
Wer immer schon Zweifel hatte, ob die eigenen, ungelenken Bewegungen den Rhythmus-Wettläufen von Footwork und Juke gerecht werden, konnte sich im Tunnel am Samstag die Antwort abholen: Nein. Das macht aber nichts. Vorne zeigen heute nämlich im vermutlich wirklich nicht mehr besonders gesundheitsfördernden Dunst des Tunnels, den man auch Tage danach nicht aus dem Mantel bekommt, zwei Footwork-Tänzer, wie es wirklich geht. Während, nachdem und bevor gute Menschen wie Antonia, Franjazzco, Regis, Clap!Clap! (etwas weniger Weltpop-mäßig als erwartet), DJ Earl und DJ Paypal wie wahnwitzig Samples zerhäckseln und trockene Drumrolls aus 808s laufen lassen, vollführen Sirr Tmo & Dre inmitten der Menge mit ihren Beinen Dinge, die der Physik zu widersprechen scheinen. Der Oberkörper bleibt dabei ruhig.
"Was der meisten Musik dieser Tage fehlt, ist Spaß", sagt DJ Paypal und droppt inmitten seiner Beatgewitters Mini-Samples aus "The music sounds better with you" oder "Mundian to bach ke" von Panjabi MC. Tanzen darf man nämlich auch so: irgendwie. So soll es sein.
Elevate / Jola / CC BY-NC-ND 2.0
Im Dom im Berg wurde im Laufe des Elevate-Wochenendes der Beweis angetreten, dass Live-Clubmusik schon lange nicht mehr automatisch auf der Formel Männer mit Laptops beruhen muss. Im Gegenteil, das Hauptinstrument des diesjährigen Elevates ist das Schlagzeug. Während am Vorabend mit Cid Rim, Lone und Mount Kimbie gleich drei der Headliner auf organische Rhythmuserzeuger setzten, reist das französische Trio Zombie Zombie am Samstag mit nicht weniger als zwei kompletten Drumkits an. Man gönnt sich ja sonst nichts, hatte sich Zombie Zombie-Gründer Etienne Jaumet gedacht, der letztes Jahr auf derselben Bühne bereits eine Solo-Show gespielt hatte, und warf noch sein Saxophon, etwa eine Million Effektpedale und acht bis zehn Synthesizer dazu ins Flightcase.
Elevate / Jola / CC BY-NC-ND 2.0
Die Band, die ihr Lieblingsfilmgenre schon im Namen und auf ihren T-Shirts trägt, zählt unter anderem ihren eigenen Helden John Carpenter zu ihren Fans ("Das wissen wir doch eigentlich gar nicht so genau?" - "Doch, doch, in einem Interview hat er das gesagt, ich schick dir den Link." - "Cool.", die unaufgeregten Zombie Zombie im Gespräch untereinander nach einem über zweistündigen Soundcheck). Live erschaffen die drei eindringlich-gruselige, ausufernde Symphonien aus Electro, Kraut und Pop, die absichtlich ohne Visuals auskommen, weil die Zuseher sich dazu lieber ihren eigenen Film ausmalen sollen. Dream, Baby, Dream.
Sobald beim Elevate Festival der Dungeon im Berg offen ist, sollte man nach Möglichkeit überhaupt kein volles Getränk mehr in der Hand haben, denn sonst ist der Weg zwischen den Floors mit dem getränkefreien Lift versperrt. Den erschöpften Versuchen, zwischen den einzigen WCs im Keller des Doms, der Bar und dem Erleben sämtlicher Acts auf dem Timetable ein Gleichgewicht zu finden, sind an diesem Tag leider die folgenden Shows zum Opfer gefallen: Asfast, Jan Nemecek, In Aeternam Vale. Letzterer betreibt sein Proto-Techno-Projekt mit dem, nagut, lateinischen Namen bereits seit Beginn der Achtziger Jahre. Warum er als Abschlussnummer "Ca plane pour moi" des belgischen Doch-Nicht-Sängers Plastic Bertrand spielte - genau soviel konnte mit leerem Glas in der Hand dann doch noch persönlich überprüft werden - muss möglicherweise eine Geheimnis bleiben. Die Bühne wurde von dem Lyoneser Festival Nuits Sonores co-gehostet, vielleicht deshalb.
Elevate / Jola / CC BY-NC-ND 2.0
Erfahrungsgemäß funktionieren am Dancefloor des Dom im Berg schnelle, geradlinige Musiken am besten, was den beiden Trackjongleuren DVS1 und Funkineven (letzteres von unserer Seite dann nur noch durch Fotos und Online-Postings bestätigt) zugute kommt. Die Facebook-Timeline des Elevate ist voller Herzen.
Heute blasen dem Festival zum Abschluss Michael Giras Swans und die umwerfende schwedische Orgel-Göttin Anna von Hausswolff den Eiswüstenblues. Wir sehen uns wieder, und zwar schon bald.