Erstellt am: 21. 10. 2016 - 17:16 Uhr
40 Jahre Rough Trade!
1976 muss tatsächlich ein heißer Sommer in London gewesen sein. Die Gründung der Sex Pistols und der ersten Explosion von Punk als Mode- und Jugendkultur wird zum 40-Jahre-Jubiläum überall abgefeiert. Eher am Rande der grellen Punk-Supernova, die sich in der Kings Road und in den Clubs im Zentrum Londons abspielt, macht ein gewisser Geoff Travis im Westlondoner Stadtteil Notting Hill, unweit der Portobello Road, seinen Plattenladen auf: Rough Trade.
Verkauft wird vor allem Reggae, wie er in der Gegend dort viel gehört wird. Nach und nach kommen Singles, Kassetten und LPs der Punks in das Repertoire dazu. Das kleine Geschäft wird schnell zum Umschlagplatz für Fanzines, Flyer, Infos und vor allem Musik der neuen Szene. Was dort über und unter dem Ladentisch verkauft wird, ist der heiße Scheiß der Stadt.
CC BY-SA 2.0, Paul Hudson on Flickr
1978 wird neben dem Laden auch das gleichnamige Label von Rough Trade ins Leben gerufen, und damit beginnt das, was man gemeinhin als Postpunk in den Geschichtsbüchern findet. Travis wird zum Motor einer neuen selbstbewussten Independent-Szene, die von London über Sheffield und Manchester bis nach Glasgow reicht, und unter dem Mantel „The Cartel“ von einer alternativen Musikwirtschaft träumt.
Rough Trade
Man kann das als Vorläufer des von Margaret Thatcher propagierten Unternehmergeistes sehen oder als puren Idealismus. Über vier Jahrzehnte, Konkurse und Fusionen, Nervenzusammenbrüche und Gerichtsprozesse hinweg ist Rough Trade in verschiedener Ausformung bis heute sichtbar. Etwa als Plattengeschäft und Touristenattraktion in East-London auf der Brick Lane inklusive ikonischen Stofftaschen mit Logoaufdruck und als Vertrieb von interessanter Musik.
Fünf Platten, die Rough-Trade-Geschichte geschrieben haben
1. Young Marble Giants: Colossal Youth (1980)
Nicht nur eine der Lieblingsbands von Kurt Cobain, die Young Marble Giants haben ihren zarten Minimalismus mit dem antivirtuosen Dogma von Punkrock gekreuzt. Ihr einziges Album für Rough Trade von 1980 sorgte für zahlreiche Bandgründungen und eine ganz neue Ästhetik. Was wären The XX ohne sie?
2. Scritti Politti: The Sweetest Girl (1981)
Als links-revolutionäres Popkollektiv mit studentischem Avantgarde-Anspruch gegründet, wandelte sich die Band Scritti Politti bald zum Ein-Mann-Unternehmen des Poptheoretikers und Philosophen Green Gartside (Songzeile: “I’m in love with a Jaques Derrida”). Das Debütalbum „Songs to Remember“ auf Rough Trade verband elegantesten Hochglanzpop mit Semiotikseminar. Und man wollte damit dringend in die Popcharts, um die Welt zu verändern. Hier ist eine rare C-81-Kassettenversion des Hits der Platte, in Kooperation mit dem NME.
3. The Smiths: Hand in Glove (1983)
Über das Verhältnis von Morrissey, The Smiths und Rough Trade gäbe es viel zu sagen. Getrennt haben sie sich jedenfalls nicht im Guten. In Morrisseys Autobiografie, der man auch nicht alles glauben muss, wird Rough Trade jedenfalls als unfähiges Label dargestellt, das mit dem Riesenerfolg der Band nicht umgehen konnte und daran absurderweise fast bankrottging. Der große kommerzielle USA-Erfolg war Morrissey jedenfalls erst nach dem Ende der Rough Trade-Zusammenarbeit gegönnt. Die Ästhetik der alten Smiths-Rough-Trade-Singles war jedenfalls unschlagbar.
4. The Strokes: Last Night (2000)
Geoff Travis, Gründer von Rough Trade, hatte die Londoner Plattenläden und sein Label längst verkauft, um Anfang der 2000er Jahre noch einmal so richtig zu dem Strippenzieher des Hypes zu werden, für den er in den Indie-80er-Jahren berühmt wurde. The Strokes aus New York, ein generalstabsmäßig geplantes Gitarrenrock-Revival, enge Hosen, Lederjacken und scharfe Frisuren, waren für einen Moment auf Rough Trade und fanden Hunderte Nachfolger. Die Libertines waren übrigens auf Rough Trade.
Warpaint: The New Song (2016)
Rough Trade ist auch 2016 als Label und Musikentdecker aktiv. Dass „ungschaut alle Rough-Trade-Platten kaufen“, ist mit dem Ende der Plattenfirma, wie wir sie kennen, ohnehin schon längst Geschichte. Aktuelle Rough-Trade-Bands wie Skull Disco, Parquet Courts, Alabama Shakes und die Sleaford Mods leben aber immer noch ein kleines Stückchen weit vom Indie-Nimbus, den Rough Trade in den 80er Jahren mit Kollegen und Konkurrenten wie Factory, 4AD, Beggars Banquet und Some Bizarre geprägt hat.