Erstellt am: 20. 10. 2016 - 20:17 Uhr
Ins Maul geschaut
Weil ich heute mitgekriegt hab, was in Österreich gerade bezüglich der Teilnahme Rechtsextremer an Fernseh-Talk-Shows im Namen der „Meinungsfreiheit“ abgeht:
Die britischen Medien tanzen uns allen im toxischen Post-Brexit-Klima vor, wie schnell sich xenophobe und rechtsextreme Töne normalisieren lassen.
Selbst abgebrühte Gemüter musste schockieren, wie The Sun, die Daily Mail und der Daily Express in den letzten Tagen auf die Aufnahme von bloß 14 (in Worten vierzehn) minderjährigen Flüchtlingen reagierten, die dank der Konvention von Dublin Anrecht auf Aufenthalt in Großbritannien haben, weil sie zu bereits im Land wohnenden Verwandten hinzustoßen wollen.
In allerletzter Minute, ehe der „Jungle“ aus Zelten und Wellblech neben der Autobahn zum Kanal-Tunnel von den französischen Behörden mit Bulldozern geräumt wird, hat sich das britische Home Office endlich dazu durchgerungen, zumindest jene 14, und in weiterer Folge an die hundert der unter katastrophalen Umständen am Grenzzaun in Calais hausenden über 1000 Minderjährigen auf die Insel zu lassen.
Erwähnte Boulevard-Blätter attackierten selbst dieses absolute Mindestmaß an Menschlichkeit mit Bildern von Neuankömmlingen an Britanniens Ufern, die ihrer Meinung nach verdächtig wie Erwachsene aussähen und sich betrügerisch als Teenager ausgeben.
Der konservative Abgeordnete für Monmouth David T.C. Davies (nicht zu verwechseln mit dem Brexit-Minister David Davis, und schon gar nicht mit dem Kinks-Gitarristen Dave Davies) verlangte gar danach, zur Feststellung ihres Alters die Zähne der Flüchtlinge zu untersuchen, so als ginge es um Haus- und Nutztiere (bzw. Sklaven), denen man vor dem Kauf ins Maul schaut.
Eine Maßnahme, die selbst der politischer Parteinahme unverdächtige britische Zahnarztverband prompt als „unethisch“ ablehnte.
The Sun
Aber das änderte nichts daran, dass Davies mit seiner Forderung in sämtlichen Nachrichtensendungen zu Wort kam.
Prompt verschob sich die Diskussion der britischen Flüchtlingspolitik vom eigentlichen Thema der erbärmlich niedrigen Aufnahmebereitschaft des Vereinten Königreichs in Richtung besorgter Mutmaßungen über das Alter der aus dem Elend des Dschungels Geretteten.
Einerseits beschämend für ein Land wie Großbritannien, das sich gern auf seine historischen Verdienste bei der Hilfeleistung für Verfolgte beruft, andererseits auch nicht viel anders als die Kommentare, die ich seit etwa einem Jahr in deutschsprachigen (sozialen) Medien über „all die jungen Männer“ lese, die doch eigentlich zuhause bleiben und für die gute Sache kämpfen sollten.
(Würde ja gerne wissen, wie diese Lehnsesselpartisan_innen selbst auf einen Einberufungsbefehl in Assads syrische Armee reagierten. Empfehle ihnen allerdings, vor vorschneller Beantwortung der Frage einmal ein Gespräch mit jemand zu führen, der von seiner eigenen Familie mit mühselig zusammengekratztem Schmiergeld kurzfristig aus der Armee freigekauft und danach so schnell wie möglich auf die Reise westwärts ins Ungewisse geschickt wurde - das ist nach meiner Erfahrung nämlich die gängige und schlüssige Geschichte, aber klar, man kann auch beschließen, sie nicht zu glauben, weil die ja alle lügen und so.)
Dritterseits sieht man am britischen Beispiel allerdings, dass die Zahl aufgenommener Flüchtlinge gar nicht so gering sein kann, dass sich damit nicht hysterische Fremdenangst schüren ließe.
Aber kurz zurück in eure Gegend: Gestern lief in den BBC News um zehn Uhr Abends ein Beitrag der EU-Korrespondentin und Ex-FM4-Kollegin Katya Adler aus Berlin über den Widerspruch zwischen den Sorgen deutscher Bürger_innen und Angela Merkels Einwanderungspolitik.
Das Thema war nicht zufällig gewählt, schließlich ist Großbritannien gerade drauf und dran, seine Zugehörigkeit zum europäischen Binnenmarkt zu verlieren, weil Theresa Mays Regierung in ihren Brexit-Verhandlungen auf eine Begrenzung der Einwanderung aus der EU bestehen will.
Da lässt man sich gern bestätigen, dass die europäische Bevölkerung im Gegensatz zu ihren Regierungen insgeheim eigentlich eh auch so denkt wie die Briten.
Wir sahen also Bilder dunkelhäutiger Menschen auf einem Berliner Marktplatz und hörten dazu Katya Adlers Einleitung (meine Übersetzung):
„Einwanderung und Integration sind die hauptsächlichen Sorgen der deutschen Wähler_innen, obwohl die meisten von ihnen zögern, das vor laufender Kamera auszusprechen.“
Na Gottseidank hat die BBC trotzdem einen gefunden. Ein junger Mann mit Hipster-Vollbart, Undercut und Hornbrillen durchquert im Gespräch mit Adler den Platz, verstörend multikulturelles Treiben im Hintergrund:
„Es macht mir keinen Spaß hier zu sein“, sagt er in flüssigem Englisch, „Das ist kein Ort, wo ich meine Kinder aufwachsen sehen wollte.“
Dazu erscheint kurz ein Insert am unteren Bildschirmrand: „Robert Timm, Activist, Die Identitäten“
Screenshot Robert Rotifer
Danach mehr Bilder von mutmaßlich ausländisch aussehenden Menschen, dazu Adler aus dem Off:
„Aktivist Robert Timm führte mich durch den Berliner Bezirk Neukölln. Mehr als eine Million Asylsuchender fluteten letztes Jahr nach Deutschland, nachdem Frau Merkel die Türmatte mit der Aufschrift 'Willkommen' ausgelegt hatte. Robert erzählte mir, dass er seine eigene Stadt nicht mehr wieder erkenne. Als ich das hinterfragte, sagte er mir, dass Kanzlerin Merkel einfach die Deutschen bevorzugen solle.“
O-Ton Timm: „Die Leute haben genug, und ihr ist das einfach egal.“
Darauf folgt ein kurzes Interview mit einem CDU-Politiker, der sagt, dass Brexit für die deutsche Politik keine Priorität sei, und eines mit einem britischen Ex-Botschafter, der die Bedeutung der europäischen Idee am Kontinent zu erklären versucht.
Kein Versuch, die gefilmten fremdländisch Aussehenden zu Wort kommen zu lassen.
Kein Wort darüber, dass der interviewte, gut gekämmte Aktivist zu einer aus Österreich exportierten Plattform gehört, von der sich selbst die AfD-Führung distanziert (die ihrerseits von der BBC übrigens ebenfalls regelmäßig Gelegenheit erhält, die dem britischen Diskurs zupass kommende euroskeptische Seite Deutschlands zu repräsentieren).
Das ist in etwa so, als würde ich als österreichischer Korrespondent hier einen Vertreter der rechtsradikalen English Defence League interviewen und in der ZiB 2 als Stimme des verschüchterten Volkes verkaufen.
Alles in allem ein erstaunlicher Coup für eine in Deutschland gerade erst im Aufbau befindliche rechtsextreme Splittergruppe.
Am selben Tag, da die BBC diesen denkwürdigen Beitrag ausstrahlte, verkündete IPSO (Independent Press Standards Organisation), die von den britischen Zeitungsverlegern zur Selbstkontrolle aufgestellte „unabhängige“ Medienaufsicht, ihr Urteil über eine Beschwerde der für die Produktion der Channel 4 News zuständigen Firma ITN gegen einen Artikel von Kelvin MacKenzie, eines Kolumnisten und Ex-Chefredakteurs der Sun.
MacKenzie hatte am 18. Juli geschrieben, es sei „redaktionelle Dummheit“ seitens Channel 4 News gewesen, der Nachrichtensprecherin Fatima Manji zu erlauben, den Hijab zu tragen, während sie über den islamistischen Anschlag von Nizza berichtete.
IPSO befand: „Während die Meinung des Kolumnisten für die Beschwerdeführerin sowie andere zweifellos verletzend war, hat er das Recht zum Ausdruck dieser Ansichten.“
Fatima Manji selbst legte schriftlich Berufung gegen IPSOs Urteil ein, das sie als „zutiefst vernichtende, persönliche Attacke auf mich“ bezeichnete. Unter anderem schrieb sie:
„Nicht nur, dass [MacKenzies Kolumne] mich per Vorurteil fälschlicherweise mit einem für die überwiegende Mehrheit von Moslems (einschließlich mir selbst) absolut verabscheuenswürdigen und den Lehren islamischer Prinzipien zuwiderlaufenden terroristischen Anschlag in Verbindung stellt.
In der Tat waren viele der Opfer selbst Moslems, darunter eine Frau, die wie ich Fatima hieß und auch ein Kopftuch trug.
Es wird auch nicht berücksichtigt, dass die Veröffentlichung dieser Kolumne angesichts des derzeitigen Klimas der Islamophobie zu Angst um meine körperliche Sicherheit führte.“
Für den Fall, dass IPSO letzteres als Einbildung abtun könnte, wies Manji auf eine Radio-Talk-Show hin, die Expert_innen dazu befragte, ob die Leser_innen der MacKenzie-Kolumne sich zum Lynchen der Nachrichtensprecherin aufgefordert sehen könnten.
Aber die Medienaufsicht blieb bei ihrer Einschätzung, dass MacKenzie das Recht habe, „seine Ansicht auszudrücken, dass es im Kontext eines terroristischen Akts, der augenscheinlich im Namen des Islam verübt wurde, unpassend war, wenn eine Person, die islamische Kleidung trägt, einen Bericht darüber präsentiert.“
In anderen Worten: Die Freiheit zu definieren, wofür die Kleidung einer Nachrichtensprecherin steht, liegt einerseits bei einem islamistischen Terroristen, andererseits bei einem islamophoben Zeitungskolumnisten, aber nicht bei ihr selbst.
Und so wird die Normalität dessen, was man im Medienmainstream doch noch sagen dürfen wird, täglich noch ein Stückchen (rechts)extremer, bei mir wie bei euch.
Alles im Namen der Freiheit zu rassistischer Meinung.