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Boris Jordan

Maßgebliche Musiken, merkwürdige Bücher und mühevolle Spiele - nutzloses Wissen für ermattete Bildungsbürger.

19. 10. 2016 - 21:28

"Tune it, count it, let it blast!"

Der Reader "Damaged Goods" schreibt zwei, drei, viele Punk-Historien.

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Vierzig Jahre soll die alte Tante Punk nun schon sein, gerade ringen sich alle dazu durch, 1976 nun echt als das Beginnjahr zu definieren, das Jahr der UK-Tour der Sex Pistols / Clash, bei der bei jedem Konzert in jedem Kaff von den vierzig Anwesenden im Publikum die Hälfte selber eine Band gegründet haben soll - zumindest wird das von Pete Shelley, Morrissey und Ian Curtis behauptet. Und das Debüt der Ramones ist auch 1976 erschienen, das von Blondie und so weiter - man muss ja irgendwie anfangen - nicht freilich ohne darauf hinzuweisen, dass Franz Schubert, Satie, Thelonius Monk oder Lou Reed auch schon Punk waren, "I was a Punk before you were a Punk".

Ein Punk-Geschichtsbuch zum Jubiläum herauszubringen, wäre zu wenig gewesen. Legs MacNeil, Jürgen Teipel, Jon Savage, Greil Marcus' "Lipstick Traces" - kaum eine Minute des Londoner und New Yorker Ur-Punks ist unbelichtet, kaum eine Nebenfigur nicht zur Zeitzeugin verklärt. Also hat sich "Testcard"-Mitherausgeber Jonas Engelmann dazu entschlossen, das eigentlich formal konservativste der Musikschreiber-Genres dazu zu verwenden, diesen nicht ganz eindeutigen 40. Geburtstag zu begehen: Die Plattenkritik.

Wer mit Popschreibern aufgewachsen ist, erwartet hier, dass ihm Vierzigjährige, durch die Stahlbäder von Ian Penman und Diedrich Diederichsen gewappnete Mansplainer, erneut das Wichtige in den historischen Wichtigkeiten auseinandersetzen und einem festgeschriebenen Kanon nichts mehr hinzugefügt wird: "Death to all who dare rewrite what has been written " (Mark E. Smith).

Zweiteres stimmt teilweise, ersteres gar nicht.

Damaged Goods - Buchcover

Ventil Verlag

"Damaged Goods - 150 Einträge in die Punk-Geschichte" ist im Ventil Verlag erschienen, herausgegeben von Jonas Engelmann.

Irgendwie steht dem Punkrock die "Oral History" gut an. Fast sämtliche Literatur über ihn wird in irgendeiner Form von Aussagen von Zeitzeugen getragen, von John Lydons Autobiografie "No Irish, No Blacks No Dogs", Henry Rollins Black Flag-Tagebuch "Get In The Van", Viv Albertines "Typical Girl" bis zu den erwähnten Montage-Büchern von Teipel und McNeill. Überall Erlebtes von VeteranInnen, die sagen, wie´s war.

In "Damaged Goods" sind die JournalistInnen, MusikerInnen und WissenschaftlerInnen (sämtlich mit Ventil und Testcard im weitesten Sinne assoziiert) selbst ZeitzeugInnen, sie beschreiben weniger die Platten oder die Konzerte, als sich selbst beim Suchen und Finden der Platten oder Konzerte. Zwar wird die Erzählung "Langweiliges, deutsches Kaff, wir hatten ja nichts außer den Club X, die Band Y und die Platte Z" schon recht oft durchgekaut (die Punk-Rezeption ist in "Damaged Goods" schon stark auf die BRD fokussiert, wenn auch nicht ausschließlich), aber sie entbehrt in allen Fällen nicht einer gewissen Rührung. Die persönliche Erzählung entkoppelt dieses Geschichtsbuch auch von der Geschichte: Wann Punk jeweils stattgefunden hat, spielt keine Rolle, seine Ungleichzeitigkeit in den verschiedenen Weltgegenden erhebt ihn vom Trend zur Richtung, und die in "Damaged Goods" vorgefundenen slowenischen, polnischen, ostdeutschen, mexikanischen Erfahrungen der Ungleichzeitigkeit einer Aufbruchsstimmung lässt manchmal sogar an das alte "not dead" glauben.

Der Kanon, der hier gezichnet wird, ist recht überraschend. Als Beginn der Zeitrechnung die Entstehung der Kunst-Retorten-Band "The Monks" in Deutschland festzusetzen, muss sich Heimatstolz-Vorwürfe gefallen lassen ("Endlich haben auch wir eine Proto-Punk-Band"), dass Peter Hamill und Notwist dazu gehören, leuchtet nach der Lektüre völlig ein, Jeffrey Lewis reklamiert noch die anarchistischen Hippies Holy Modal Rounders, Godz und David Peel für die Bewegung, die Yeah Yeah Yeahs verstehe wer anders, die Einbindung der soundfernen aber haltungskorrekten Jonathan Richman, Attwenger oder Silver Mount Zion ist vorbildlich. Dass sich noch jemand an die Pansy Division, Erase Errata, Culturecide oder Alvaro erinnert, sowieso. Wo Die TV Personalities, XTC, die Violent Femmes, die texanischen Dicks oder Red Krayola geblieben sind, wissen nur die Herausgeber. Aber das Totschlag-Argument, dass Vollständigkeit eh nie erreicht werden könne, hat auch etwas Wahres.

Frei nach dem Leitspruch, es wäre schon Alles gesagt, wenn auch noch nicht von Allen, gibt es hier Einiges zu entdecken, selbst für solche, die den Kanon schon durchgeackert zu haben glauben. Viele Bands, viele originelle AutorInnen (und es sind erstaunlich viele Frauen dabei), viele gute Platten, viele deutsche Käffer.