Erstellt am: 19. 10. 2016 - 14:17 Uhr
Unter der Straßenbahn
Wir leben in interessanten Zeiten. Ich sage interessant, um nicht unruhige Zeiten zu sagen. Wir fühlen alle, dass wir an der Schwelle eines Konflikts stehen. Das Gefühl von Unsicherheit wird von einem allgegenwärtigen Angstgefühl abgelöst. Und Angst ist die Mutter der Gewalt. Und die Gewaltbereitschaft unserer Gesellschaft kommt immer mehr an die Oberfläche, wie der Schaum einer kochenden Flüssigkeit.
Mit Akzent
Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov und sein satirischer Blick auf das Zeitgeschehen - jeden Mittwoch in FM4 Connected und als Podcast.
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Reden und sogar Taten, die vor ein paar Jahren Tabu waren, gehören immer mehr zur Tagesordnung. Wir gewöhnen uns daran, wir akzeptieren das als Normalität. Der Staat schaut tatenlos zu und die fehlende Reaktion darauf macht die Hasssprache immer salonfähiger. Die Menschen kommunizieren miteinander heutzutage viel mehr übers Internet, als in echt. Ursprünglich als globaler freier Raum gedacht wird das Internet immer mehr zur einer Hassbrutstelle.
Für viele Menschen ist das Internet ein rechtsfreier und moralfreier Raum. Man kann dort ungestört seine Hassreden fließen lassen. Dieses Mal unter seinem echten Namen, gemischt mit süßen Baby- Katzen- und Hundefotos. Das ist ein Schritt weiter als die anonymen Internetforen. Aber was kann man machen? Interessante Zeiten, das gehört einfach dazu. Jeder hasst jeden.
![© APA/dpa/Lukas Schulze #Hass](../../v2static/storyimages/site/fm4/20161042/APAABD0006.jpg)
APA/dpa/Lukas Schulze
Letztens wurde auf der Facebook- Seite von HC Strache ein Artikel über einen syrischen Flüchtling gepostet, der versucht hat, Suizid zu begehen, indem er sich vor eine Straßenbahn geworfen hat. Der junge Mann habe zuvor mitbekommen, dass seine ganze Familie in Syrien bei einer Bombenattacke umgekommen sei und wollte sein Leben beenden. Im letzten Moment hielt der Straßenbahnfahrer das Fahrzeug auf und verhinderte somit die Tragödie.
Man liest auf der Seite des FP-Chefs unter dem Artikel Kommentare der Poster wie „ich wäre drübergefahren“, „er hätte die schöne Straßenbahn mit seinem dreckigen muslimischen Blut bekleckert“, „schiebt ihn zu seiner toten Familie ab“ usw. - ein Wettbewerb darum, wem sadistischere Formen der Ausländerausrottung einfallen. Von Seiten der Administratoren der Strache-Seite selbst werden diese Postings nicht gelöscht.
Nachdem ich diese Postings gelesen habe, habe ich selber Angst. Ich sehe mich dauernd um, ob mich vielleicht jemand unter die Straßenbahn stoßen könnte.
Ich frage mich wieviele der Hassposter tatsächlich den Syrer niedergefahren hätten, wären sie an der Stelle des Fahrers gewesen. Vielleicht sind einige davon sogar in der gleichen Straßenbahn mitgefahren. Schaut in die Augen eures Sitznachbars in der Straßenbahn: seht ihr darin eine Person, die willkürlich eine andere überfahren würde? Ich hoffe nicht.