Erstellt am: 18. 10. 2016 - 14:26 Uhr
Eine andere Beziehung zum Konsum
FM4 Auf Laut (21.00-22.00) mit Claus Pirschner
Heute Live aus Athen: Die innenpolitische Situation in Griechenland
Wie halten die Menschen das achte Jahr der Krise in Griechenland aus? Wie überleben sie ökonomisch und sozial den Austeritätskurs? Nach wie vor ist jede/r vierte GriechIn arbeitslos, bei den Jungen sogar jede/r Zweite. Die Wirtschaft schrumpft weiterhin.
Claus Pirschner diskutiert live in Athen mit Christos Sideris, Initiator einer von mittlerweile 50 Solidaritätskliniken in Griechenland, mit der Journalistin Alkyone Karamanolis und mit AnruferInnen über soziale Folgen der Austeritätsprogramme, Widerstand und Alternativen dazu.
Anrufen und mitdiskutieren unter 0800/226 996.
In einem kleinen Laden im Stadtteil Thissio, in der Nähe der Akropolis, ordnen Ilias und Lili Produkte in die Regale ein. Waldhonig aus Nordgriechenland, Kaffee aus Mexiko, Bio-Bananen aus Kreta und getrocknete Pilze aus Thrakien. Im Raum duftet es nach Gewürzen und Tee. Die Genossenschaft für Solidarwirtschaft "Synallοis" wurde im Jahr 2011 inmitten der Krise von fünf Menschen gegründet, die schon Erfahrung in der Solidarwirtschaft auf ehrenamtlicher Basis hatten. Jetzt sorgen sie unter anderem dafür, dass Produkte aus dem In- und Ausland auf der Basis von solidarischem Handel direkt bei den Konsumenten landen und liefern Produkte an ähnliche Läden im Rest Griechenlands.
Chrissi Wilkens
Die fünf Mitarbeiter der Genossenschaft treffen die Entscheidungen gemeinsam und bekommen den gleichen Lohn. Ihr Projekt ist bereits erfolgreich, erklärt Ilias "Das Feedback war positiv, unerwartet positiv. Vor allem, was den Laden angeht. Es kommen nicht nur Menschen aus der Nachbarschaft, sondern auch aus anderen Stadtteilen Athens." Täglich besuchen den Laden durchschnittlich um die 80 Personen. Unter ihnen befinden sich mehrere, die keine Erfahrung mit der Solidarwirtschaft oder anderen alternativen Projekten hätten, und die erst durch die Krise angefangen hätten, sich dafür zu interessieren, sagt er. "Ich glaube die Menschen suchen Produkte, die eine Geschichte haben, und h nach Informationen über den Produzenten. Sie suchen also eine andere Beziehung zum Konsum. Wir versuchen, direkten Kontakt zu den Produzenten zu haben, um die Information an den Verbraucher weiterzuleiten."
Chrissi Wilkens
Ilias war Bauingenieur und hat sich während der Krise entschieden, den Beruf zu wechseln. Lili führte vorher eine Brasserie und ein Hotel. Sie meint, dass der Erfolg des Projektes auch mit der Qualität der Arbeitsverhältnisse zu tun hat. "Es ist nicht erfolgreich, weil wir viel Geld verdienen, sondern weil wir die Krise überlebt haben, mit wenig Geld und einer Ruhe, die wir nie hätten, falls wir Freiberufler oder Angestellte einer Firma wären. Ich kann z.B über das Tempo meiner Arbeit entscheiden und wenn ich irgendwann in Schwierigkeiten komme, kann ich Unterstützung bei den anderen finden. Ich glaube, dies ist nicht mehr der Fall bei den Verhältnissen zwischen Mitarbeitern in normalen Betrieben."
Den Laden betritt eine junge Frau. Sie fragt Lily nach Informationen über ein bestimmtes Produkt. Lily schlägt eine kleine Broschüre auf und erklärt seinen Nährwert. Seit mehr als einem Monat kauft die junge Kundin hier ein und ist begeistert über die Projekte der Solidarwirtschaft in Griechenland: "Es ist etwas Neues, was sich zu etwas sehr Interessantem entwickeln kann und die Leute dazu führen könnte, sich mit dem Reichtum der Natur dieses Landes zu beschäftigen."
Chrissi Wilkens
Diese Woche will die linksgerichtete Regierung von Alexis Tsipras mit einem Gesetz diesen Bereich fördern und einen sogenannten Fond für Sozialwirtschaft gründen, der diejenigen unterstützen soll, die keinen Zugang zum Bankensystem haben. Ca. 157 Millionen Euro sollen für Projekte aus sozialer und solidarischer Wirtschaft bereitgestellt werden. Die Regierung hofft, dadurch auch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Acht Jahren nach dem Ausbruch der Krise erholt sich die Wirtschaft immer noch nicht und die Arbeitslosenquote ist mit mehr als 23 Prozent die höchste in der EU. Laut aktuellen Angaben von Eurostat verzeichnete Griechenland seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 den höchsten Anstieg von Armut und sozialer Ausgrenzung, und zwar von 28,1 auf 35,7 Prozent.
Dazu muss man in Griechenland immer wieder zittern, was die Hilfe von den Gläubigern angeht. Die Euro-Finanzminister gaben letzte Woche vorerst nur einen Teil der neuen Hilfstranche an Griechenland frei. 1,1 Milliarden soll Athen sofort erhalten, die verbleibenden 1,7 Milliarden Euro könnten bis Ende Oktober ausgezahlt werden.
Tsipras ist schon seit mehr als 20 Monaten an der Macht. Obwohl er bei seinem Wahlkampf versprochen hatte, die Sparpolitik zu beenden, lenkte er auf Druck der Gläubiger ein und setzte harte Sparmaßnahmen um, unter anderem Rentenkürzungen, Steuererhöhungen und zuletzt sogar Zwangsräumungen. Die Wut und die Enttäuschung der GriechInnen verzeichnen sich bei den Umfragen, in denen zurzeit die konservative Oppositionspartei Nea Dimokratia gegenüber dem Linksbündnis Syriza führt. Doch Tsipras scheint die Gunst der WählerInnen noch nicht ganz verloren zu haben.
Chrissi Wilkens
"Die BürgerInnen sind frustriert, aber dies hat nicht nur mit Syriza zu tun, sondern es betrifft alle Parteien. Nach dem Scheitern von Syriza, das Sparmemorandum zu ändern, ist es für sie viel schwieriger geworden, zu glauben, dass es eine echte Alternativpolitik gibt. Trotz der Sparmaßnahmen hat Syriza die Gesellschaft überzeugt, dass es sie besser beschützen kann als Nea Dimokratia", so Analyst Giorgos Tzogopoulos von der Hellenischen Stiftung für Europäische und Außenpolitik (ELIAMEP). Die Regierung versucht inzwischen zu zeigen, dass sie den Kampf gegen Steuerhinterziehung und Korruption ernst nimmt, und hofft auf einen Schuldenschnitt – auch, um innenpolitisch zu punkten. Auch Projekten wie der Solidarwirtschaft wird große Bedeutung gegeben. Ilias von der Genossenschaft "Synallois" betont, dass es sehr wichtig ist, Transparenz bei der Finanzierung solcher Projekte zu schaffen, um Fehler aus der Vergangenheit zu vermeiden, als Genossenschaften abhängig von Parteien und Regierungen waren und nicht-nachhaltige Projekte einfach eine Subvention bekommen haben, um auf dem Markt zu bleiben. "Darauf zu achten, ist sehr wichtig, um keine Abhängigkeiten und falsche Hoffnungen zu schaffen. Man muss dafür sorgen, dass der Bereich der Sozial- und Solidarwirtschaft autonom bleibt."