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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

22. 10. 2016 - 13:26

Die Abgewiesenen

Rund ein Drittel der Menschen, die in Österreich seit Jahresbeginn internationalen Schutz suchen, könnten nach dem Dublin-Abkommen in andere Länder rückgeschoben werden.

Der Kofferraum ist voll. Zwei Taschen mit Kleidung, ein Trolley, ein Toaster und dann passen doch noch eine Schultasche und ein Skateboard darauf. Ein Wochenende lang sind Petra Leschanz und Birgit Roth von der Privatinitiative Border Crossing nach Kroatien, nach Zagreb und Kutina, und nach Slowenien unterwegs, um rückgeschobenen Familien ihre zurückgelassenen Dinge in die Asylheime zu bringen.

Aghiad trägt eine Topffrisur und umarmt sein Skateboard. In Ljubljana-Vič ist der Achtjährige und seine Familie jetzt in einem Amtsgebäude in der Peripherie untergebracht. Wie aktuell 150 weitere Asylsuchende, die aus anderen Ländern der europäischen Union dorthin abgeschoben wurden. Die nächste Busstation ist eine Viertelstunde zu Fuß entfernt, rundum sind Firmenlager. Es ist eine vorstädtische Ödnis. Europa ist ein Poster in einer Ecke des Amtsgebäudes. Eine geografische Skizze, ausgemalt mit Buntstiften und aufgeklebten Sehenswürdigkeiten: Amsterdamer Häuser, Eiffelturm, Big Ben, Drachenbrücke in Ljubljana.

Zwei syrische Mädchen und ihr Bruder spielen bei einer Lache in Ljubljana, Steine über Wasser flitzen zu lassen

Radio FM4 / Maria Motter

Ljubljana, Oktober 2016
Flüchtlingsheim in Ljubljana-Vič, das mehr einer Haftanstalt ähnelt

Radio FM4 / Maria Motter

Asylheim im Industriegebiet Ljubljanas.

Die Schultasche gehört Rama. Ihre ältere Schwester ist elf. Sie spricht Türkisch und lernt seit April Deutsch. In Graz sind die Kinder zur Schule und auch in die Sommerschule gegangen. Musik, BE, Turnen: sehr gut, Marams Zeugnisse zeigt der Vater stolz. Ihre Zeichnungen reicht er weiter, wenn Maram gerade nicht hersieht. Auf allen Bildern sind kopflose Köper zu sehen und ein lachender Mann schneidet einem anderen mit einem Messer den Kopf ab.

In Raqqa, wohin die Familie aus ihrer Stadt Homs floh, holte sie der sogenannte Islamische Staat ein. Auf dem Weg zu einem Geschäft stolperte Maram über den abgetrennten Kopf eines Menschen. Jetzt sitzt sie in Ljubljana und sagt: "Ich hab' ein bissi Angst." Denn auch wenn andere Heimbewohner seit Wochen um Hausschuhe bitten: Zumindest der Schulunterricht wird in Slowenien nahtlos fortgesetzt. Nach Türkisch und Deutsch wird Maram jetzt Slowenisch lernen. Über die Türkei und weiter über die sogenannte Balkanroute floh die Familie aus Syrien, wollte Sicherheit und nach Deutschland.

Eine Kinderzeichnung zeigt Panzer, Menschen ohne Köpfe, viele rote Flecken und einen Mann, der lacht und jemanden den Kopf abschneidet mit einem Messer

Radio FM4 / Maria Motter

Einer von 13.000 Dublin-Fällen erledigt

Über ein Drittel der rund 34.600 Asylwerbenden, die von Jahresbeginn bis Ende September 2016 in Österreich um internationalen Schutz angesucht haben, sind vom Dublin-Abkommen betroffen. Laut Auskunft des Innenministeriums bedeutet das konkret rund 13.000 offene Dublin-Verfahren, die sich auf den Zeitraum seit September 2015 beziehen. Über den jeweiligen Stand gibt es keine eigene statistische Verfassung, heißt es aus dem Innenministerium. Für 13.000 Menschen bedeutet dieser Zustand große Unsicherheit.

Denn Österreich erklärt sich in diesen Fällen für die Asyl-Ansuchen nicht zuständig und wendet sich in sogenannten Konsultationsverfahren an andere Länder.
Und zwar an jene Staaten, wo die Menschen erstmals registriert wurden. "Der allergrößte Teil betrifft Ungarn, dann Kroatien, Slowenien, aber auch Länder wie Bulgarien, Polen und Italien sind dublin-relevant", erklärt Karl-Heinz Grundböck, Sprecher des BMI. "Das andere Land kann sich äußern, die Zuständigkeit anerkennen oder ablehnen und wenn es sich verschweigt, tritt die Zuständigkeit dieses Landes ein." Von allen Dublin-Entscheidungen werden die betroffenen Personen informiert. Es gibt die Möglichkeit, dagegen zu berufen.

Der Grenzübergang in Spielfeld Mitte Oktober 2016: Hinter Zäunen stehen leere Zelte und die digitale Anzeigentafel zum Leitsystem für Geflüchtete ist ausgeschaltet

FM4 / Maria Motter

Spielfeld, Oktober 2016.

Der Fall Marams und ihrer Familie ist komplex: Am 13. Februar 2016 wollten die Eltern mit den Kindern nach Österreich einreisen. In Spielfeld wurden sie abgewiesen. Die Polizistin notierte, die Familie wollte nach Deutschland „für ein besseres Leben“. Rückgewiesen, kamen sie in Slowenien in Haft und reisten Wochen darauf doch nach Österreich ein. Diesmal illegal. Die SyrerInnen waren unter den Beschwerdeführern im Prozess gegen die ursprünglichen Rückweisungen an der österreichischen Grenze.

Letzte Woche wurde die Familie nach Ljubljana
rückgeschoben. Der Vater hatte einen Selbstmordversuch unternommen. Die Polizei nimmt ihn aus der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Graz Süd-West in die Schubhaft. Nach sieben Monaten in Graz, wo sie mittlerweile Freunde fanden, sich dem Christentum zuwandten und sich um ein neues Leben bemühten. Das Krankenhauspersonal hätte ihn zu den Polizisten gepusht und er sei außer sich gewesen, sagt der Mann eine Woche nach der Abschiebung in Ljubljana. Primarius Michael Lehofer, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, sagt auf Anfrage, dass es sehr selten vorkäme, dass jemand direkt von der Psychiatrie zur Abschiebung abgeholt wird: "Das ist die absolute Ausnahme, weil das Abholen mit dem Ende der Behandlungsbedürftigkeit übereinstimmen muss."

Eine Abschiebung verhindern kann nur eine Zwangseinweisung. Im Landeskrankenhaus gibt es eine eigene Patientenanwaltschaft. Kein Gebiet werde so streng überwacht wie die Psychiatrie, so Lehofer.

"Es sind deutlich mehr Menschen, die wir behandeln, Asylwerber, da die Menschen ja teilweise schwer traumatisiert sind. Sie haben posttraumatische Belastungsstörungen, Schlafstörungen, Emotionsstörungen im Sinn der inneren Leere, teilweise Suizidalität und selbstverletzende Phänomene und solche Erkrankungen", erklärt Lehofer.

Ein elfjähriges Mädchen, ihre Eltern und ihr kleiner Bruder kommen ursprünglich aus Syrien und sind jetzt in Slowenien, "rückgeschoben" aus Österreich

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Ljubljana-Vič.

Gefragt, wie es ihr ginge, spricht Tauhid nur über ihre älteste Tochter und ihren Mann. Petra Leschanz spricht Arabisch und übersetzt. Kann sich Tauhid ein Leben in Slowenien vorstellen? Sie wisse es einfach nicht. Für sie ist es wichtig, an einem Ort zu leben, wo es den Kindern gutgehe. Seit Monaten wacht Maram in der Nacht auf, kann nicht alleine schlafen, schlägt den Kopf gegen die Brust der Mutter.

In Ljubljana wurde der Familie ein Zimmer zugewiesen.
Hier trifft man auch andere Syrerinnen und Syrer, die aus Österreich rückgeschoben wurden. Etwa ein älteres Ehepaar, dessen erwachsener Sohn in Oberösterreich lebt, und einen Mann aus Darija, in dessen Fall sich Slowenien an den Europäischen Gerichtshof wendet: Wie sind die ursprünglichen Rückweisungen seitens Österreich in Spielfeld zu beurteilen? Der Polizist in Spielfeld wies den Mann zurück und notierte: "Kein Krieg im Dorf". Auf seinem Smartphone zeigt er ein ausgebombtes Haus und ein Porträt seiner Frau mit den Töchtern. Inzwischen wurde seine Zurückweisung in Spielfeld als rechtswidrig anerkannt. Ob Maram und ihre Familie in Slowenien bleiben können, ist völlig unklar.

Zwei syrische Mädchen sitzen bei Petra Leschanz von der Aktivistengruppe Border Crossing und sie schauen ein Heft an. Daneben sitzt ihr kleiner Bruder und liest. Sie sind syrische Flüchtlinge.

Radio FM4 / Maria Motter

Rama, Petra Leschanz, Maram und Aghiad

ÖsterreicherInnen kämpfen gegen die Rückschiebungen

Indes ist die Sechs-Monate-Frist der zwei Kalwanger Syrer für das Konsultationsverfahren abgelaufen. Mariam und Tagleb sind zurzeit in der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Graz Süd-West in Behandlung, der psychische Druck ist zu groß geworden. Ihre Freunde und ihre steirische Familie Dokter hoffen weiter auf ein gemeinsames Leben in Österreich.

In Kumberg unterstützen dreißig Leute mit Deutschkursen und Aktivitäten die Integration von Geflüchteten. Nachdem sich die Bevölkerung hinter eine irakische Familie und gegen deren Abschiebung stellte, droht der Familie dennoch weiterhin die "Rückschiebung" nach Kroatien. Für Sonntag organisieren Kumberger ein "Lichtermeer der Menschlichkeit".