Erstellt am: 13. 10. 2016 - 14:45 Uhr
Peak Little Britain
Jetzt schreib ich also wieder einmal was aus Wien. Schon mein fünfter Kurzbesuch hier dieses Jahr, und jedesmal fühlt es sich mehr so an, als hätte ich meine Familie in einem politischen Katastrophengebiet zurückgelassen.
Ich wünschte, ich würde übertreiben.
Beim vorletzten Mal, Ende Juni, hatte Britannien gerade diese gewisse Abstimmung hinter sich gebracht. Seither ist man damit beschäftigt, aus diesem Unfall den größtmöglichen Schaden herauszuholen.
Das britische Klima ist derart vom Brexit-Fieber vergiftet, dass sich mittlerweile faktisch alles, was ich so tue, in eine Mission wider den kleingeistigen Zeitgeist verwandelt. Selbst so ein harmloser kleiner Kulturaustausch wie mein heutiges „Home in a Heartbeat“-Konzert im Theater Akzent mit Ben Watt, Rozi Plain und Marilies Jagsch (hab eh schon einmal hier erklärt, worum's geht) fühlt sich im derzeitigen Kontext wie ein politisches Statement an.
Seit ich vor zwei Tagen in Wien ankam, hatten die Daily Mail und der Daily Express folgende Schlagzeilen auf ihren Titelseiten:
„Zeit, die EU-Austritts-Nörgler zum Schweigen zu bringen.“ (Express)
Daily Express
„Verdammt seien die unpatriotischen Brexit-Jammerer und ihr Komplott zur Unterwanderung des britischen Volkswillens“ (Mail).
Das sind keine Schlagzeilen, wie man sie in einem demokratischen Staat lesen sollte.
Der Ausländerpass wiegt schwerer als zuvor in meiner Brusttasche. Nächstes Jahr sollte ich ihn erneuern, aber wer weiß, was bis nächstes Jahr alles passiert sein wird.
Daily Mail
Um ehrlich zu sein, hätte dieser Blog ja schon vor einer Woche oder mehr geschrieben werden wollen, aber es gibt einfach zu viel zu sagen, und es schmerzt auch zu sehr.
Im Folgenden also ein kleiner Ausschnitt.
Man wird es auch in Österreich mitbekommen haben: Bei der Tory-Parteikonferenz letzte Woche wurde von Premierministerin Theresa May de facto ein neuer Inselstaat ausgerufen. Ein Eiland im Krieg gegen die „liberale Elite“ und ihre kosmopolitische Meinungshoheit. Die große Rehabilitierung der verlachten Provinz.
In Mays Rede fiel dabei ein ganz besonders denkwürdiger Satz: „Wenn Sie glauben, ein Weltenbürger zu sein, dann sind Sie ein Bürger von Nirgendwo.“
Zum Einrahmen schön.
Ich stelle hiermit fest: Der Songtitel „Citizen of Nowhere“ bzw. der Bandname „Citizens of Nowhere“ gehören mir. Das Copyright fürs T-Shirt nehm ich auch gleich mit.
Das Irre an dieser unbewusst poetischen Äußerung ist Mays fundamentale Unkenntnis der britischen Identität, die sie zu verteidigen glaubt. Während sie für „the left behind“, die Zurückgelassenen der Globalisierung, zu sprechen glaubt, spricht sie eigentlich für die Zurückgelassenen der vergangenen paar Jahrhunderte.
Denn das Weltenbürgertum war seit Beginn der Kolonialzeit die Essenz des britischen Selbstgefühls.
Ein britischer Pass war bis Anfang des 20. Jahrhunderts de facto eine Lizenz zum Hinausfahren in die Fremde.
Bis heute steht auf der Innenseite des Umschlags: „Her Britannic Majesty's Secretary of State requests and requires in the name of Her Majesty all those whom it may concern to allow the bearer to pass freely without let or hindrance, and to afford the bearer such assistance and protection as may be necessary.”
Übersetzt: „Der Außenminister ihrer britischen Majestät verlangt im Namen ihrer Majestät von allen, die es betreffen mag, den Inhaber (des Passes) frei und ohne Hinderung passieren zu lassen und ihm nach Notwendigkeit Hilfe und Schutz zu leisten.“
Wer würde mit so einem Dokument in der Tasche nicht auf Entdeckungsreisen gehen?
Dies war kein gutmütiges Weltenbürgertum, wohlgemerkt, sondern eines, das der Welt die Fahnenstange des Union Jack in die Brust bohrt. Aber immerhin, man schaute von der Insel nach außen.
Vor ein paar Tagen dagegen las ich in der Zeitung von der konservativen Europa-Abgeordneten Vicky Ford, die ein neues Vorbild für das Verhältnis Britanniens zur Welt gefunden hat:
Nicht Norwegen, nicht Kanada, nein: Liechtenstein.
Weil nämlich das Fürstentum Einwanderungsgrenzen mit Zugang zum EU-Binnenmarkt vereinen darf.
Man kann das ruhig lustig finden, aber wenn die Vertreterin einer einstigen Weltmacht Britannien mit Liechtenstein vergleicht, haben wir den Gipfel des kleinbritannischen Wahns erreicht.
Peak Little Britain.
Kleiner denken geht nicht.
Oder doch.
Denn immerhin versteht Ford die Vorteile davon, den Zugang zum Binnenmarkt zu behalten. Im Gegensatz etwa zu den Brexit-Ministern David Davis und Liam Fox, die mit geschwollener Brust, träumend von einem Wiederauferstehen der Wirtschaftswege des alten Empire, in die Tarif- und Bürokratiehölle einer britischen Zukunft ohne Handelsabkommen rennen.
Alles, was die britische Regierung in der vergangenen Woche hervorbrachte, schlug tiefer in die Kerbe der verantwortungslosen Stimmungsmache gegen die ohnehin schon täglich von Gewalt bedrohten, in Großbritannien lebenden Migrant_innen, wie hier schon vor einem Monat beschrieben.
Beginnend mit dem seither wieder zurückgezogenen Vorstoß der Innenministerin Amber Rudd alle Unternehmen zur Nennung bei ihnen beschäftigter Ausländer zu zwingen, über Gesundheitsminister Jeremy Hunt, der europäische Mediziner_innen und Krankenpfleger_innen rauswerfen will, sobald man neuen britischen Ersatz ausgebildet habe (bei gleichzeitiger Verpflichtung britischer Studienabgänger_innen, nicht ins Ausland zu gehen), bis zu neuen Gesetzen, die Vermieter_innen zu Blockwarten machen – durch die Verpflichtung zu prüfen, ob die Leute, die in ihren Wohnungen hausen, auch wirklich die nötigen Papiere haben.
Und dann preschte vor ein paar Tagen das Londoner St George's Hospital mit der Idee vor, sich von allen Patient_innen künftig einen Reisepass vorweisen zu lassen, um „Gesundheitstourismus“ zu vermeiden. Das National Health Service kennt keine e-card, es ist frei zugänglich, aber es könnte in Zukunft noch ein gutes Stück nationaler sein.
48%
Sicher, noch hat der neonationalistische Wahn nicht alle erfasst. Innerhalb der Tory-Fraktion formiert sich vereinzelter Widerstand gegen Mays neues Regime.
Das sollte man auch hoffen, leben die Tories doch von Parteispenden vermögender Menschen, die sich von ihnen vor allem niedrige Steuern und Deregulierung, aber sicher nicht die Vermüllung der britischen Wirtschaft erwarten. So schlecht wie derzeit waren sie bei den Tories noch nie aufgehoben.
Heute musste die Supermarktkette Tesco den urbritischen Brotaufstrich Marmite von den Regalen nehmen, da man sich mit dem Hersteller Unilever nicht auf einen kundengerechten Preis einigen konnte.
Das rapide Sinken des britischen Pfunds gegenüber Euro und Dollar, von Brexitern bisher als Segen für die Exporte gefeiert, zeigt also bereits Konsequenzen. Wie interessant zu sehen, welche Schuldigen die rechte Kampfpresse dafür findet.
Und während die „links“-liberale Presse (Guardian, Observer) auch nach seiner Wiederwahl immer noch gegen Labour-Chef Jeremy Corbyn anschreibt – unter anderem, indem man gänzlich faktenfern aber umso beharrlicher kolportiert, Corbyn sei zwar für Bewegungsfreiheit, aber gegen den Binnenmarkt – kommen nun zu seiner Unterstützung Leute aus dem Unterholz gekrochen, von denen man schon lange keine politische Stellungnahme mehr zu erhoffen wagte.
Jawohl, rechtzeitig zum 30. Jubiläum, feiern wir die gänzlich unerwartete Rückkehr der politisch-musikalischen Red Wedge-Bewegung. Damals, 1987, zog ein guter Teil des jüngeren britischen Pop-Establishments für den damaligen Labour-Kandidaten Neil Kinnock in den Wahlkampf – darunter The Style Council, Elvis Costello, die Specials, The Beat, Sade, Lloyd Cole, die Smiths und natürlich Billy Bragg.
Heute macht Kinnock selbst beharrlich gegen Corbyn Stimmung, dafür hat sich ausgerechnet Paul Weller, der nach seiner Red Wedge-Erfahrung eigentlich nie wieder Politik machen wollte und sich vor den letzten Unterhauswahlen sogar als Nichtwähler outete, wieder in die Aktivist_innen eingereiht.
Ich erfuhr davon Mitte letzter Woche, als ich bei Robert Wyatt zu Besuch war. Auf Roberts Küchentisch lag nämlich Daniel Rachels druckfrischer Wälzer Walls Come Tumbling Down, ein nach einem Song von Wellers alter Band The Style Council benannter, neuer Band über die Geschichte der Politisierung des Pop in den Siebziger und Achtziger Jahren.
Wyatt war damals bekanntlich Mitglied der Communist Party und hielt sich aus taktischen Grünen von öffentlichen Auftritten für Red Wedge fern, nachdem die Boulevardzeitung The Sun in einem Bericht von der Launch Party berichtet hatte, „der berüchtigte Kommunist Robert Wyatt“ sei auch dabei gewesen – derlei Assoziationen waren der Sache Kinnocks nicht förderlich.
Heutzutage spielt das keine Rolle, da einerseits Jeremy Corbyn von der britischen Presse sowieso als unwählbar abgeschrieben ist und andererseits Wyatt selbst längst unantastbaren Legendenstatus genießt.
Letzten Mittwoch also erzählte Robert brühwarm, dass Weller ihn erfolgreich überredet hat, mit ihm zusammen am 16. Dezember in Brighton einen Benefiz-Gig für Corbyn zu spielen.
Eine mittelgroße Sensation, schließlich hat Robert sich schon seit Jahren von allen Live-Auftritten zurückgezogen, „aber ich trage den Badge (deutet auf sein 'Jeremy Corbyn'-Abzeichen), also konnte ich nicht nein sagen.“ Es geht bloß um ein paar Töne aus seiner Trompete (er wird auf Wellers nächstem Album vier Takte singen und spielen), aber der Bühnenneurotiker kann vor Lampenfieber jetzt schon kaum schlafen.
Der letzte Satz meines vorvorvorletzten Blogs hier war „Man möchte es kaum glauben, aber Pop-Nostalgie kann heutzutage tatsächlich im guten Sinne politisch sein.“
Kann man hier getrost noch einmal schreiben.