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13. 10. 2016 - 12:54

Scheidungskinder und ein Gurkenkönig

Christine Nöstlinger feiert heute ihren 80. Geburtstag. Wir gratulieren und FM4 Redakteure und Redakteurinnen stellen ihre Lieblingsfiguren aus dem umfassenden Nöstlinger-Werk vor.


Christine Nöstlinger

SN/APA/GEORG HOCHMUTH

Gretchen Sackmeier

oettinger

Das Gretchen ist eigentlich ein gescheites Mädchen. Das Gretchen ist aber keineswegs perfekt. Es liest gern Adelsromane (heimlich) und ist verliebt in den Florian Kalb, der als Objekt der jugendlichen Adoration zwar naheliegend, aber leider halt ein Arsch ist. Als wäre das nicht genug, ist das Sackmeier’sche Familienleben gerade gewaltig im Umbruch, sprich: die Mutter emanzipiert sich, der Vater weiß nicht, wie ihm geschieht, der kleine Bruder droht ob der mütterlichen Emanzipationsbestrebungen ein noch größerer Chauvi zu werden als Sackmeier senior. Für mein 14jähriges Selbst war Gretchen trotz oberflächlicher Unterschiede eine wichtige Identifikationsfigur, vor allem weil sie so grounded ist: da hat man mitten im pubertären Sich-Nicht-Auskennen ein Vorbild, das sich zwar auch nicht auskennt, dem man aber eine Grundvernunft und einen Realismus zutrauen darf, der mit einem unerschütterlichem Humanismus Hand in Hand geht – und sowas ist schon mal nicht die schlechteste Richtschnur. (Jenny Blochberger)

Konrad Kurdisch Junior

oettinger

Ich war ja total verliebt in den Koku. Koku steht für Konrad Kurdisch Junior, der die männliche Hauptfigur in meiner zerfledderten Ausgabe von „Nagle einen Puddig an die Wand“ ist: Ein verwegener 13-Jähriger mit kastanienbraunen Haaren, der schon mehrere Ausreißversuche nach Amsterdam hinter sich hat, weil er dort auf der Rainbow Warrior anheuern will, um die Welt zu retten. Er ist das erste Love Interest seiner Mitschülerin Katharina, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird und die damit die eigentliche Identifikationsfigur für mich war. Gemeinsam gründen sie „Die Grüne Zukunft“ und starten Guerillaaktionen zur Mülltrennung, gegen Wasserverschwendung und Spraydosen im Supermarkt. Koku weckte ihr wie mein Bewusstsein für Umweltverschmutzung, war Aktivist aus Überzeugung – selbstverständlich immer an der Grenze zur Kriminalität – und schaffte es nicht nur Katharina, sondern auch noch einige MitschülerInnen und sogar die Erwachsenen von seiner Sache zu überzeugen. Heute frage ich mich, warum Katharina nicht eigentlich auch ohne Koku zur Aktivistin werden konnte, oder warum die Teenie-Romanze nicht umgekehrt erzählt wurde. Aber sei’s drum. Inzwischen stelle ich mir die beiden als Greenpeace-Kommando auf Öl-Plattformen in der Arktis vor oder als kompromissloses Verhandlungsteam am Klimagipfel. (Barbara Köppel)

Sebastian „Bonsai“

Der „Bonsai“ ist die gleichnamige Hauptfigur Sebastian im gleichnamigen Buch von Christine Nöstlinger. Er ist 15, Scheidungskind und im Werk der Autorin in doppelten Sinne ein Außenseiter. Einerseits ein bisschen älter, ein bisschen pubertierender als die meisten anderen Hauptfigurenkinder in den Nöstlinger-Romanen. Und ein ganz schön schlaues Kerlchen auf der Suche nach seiner sexuellen Identität und den anderen wichtigen Dingen des Lebens. Auch wenn er keine eindeutigen Antworten findet, hört Bonsai nicht auf, die richtigen Fragen zu stellen. Und er ist außerdem kleiner als das kleinste Mädchen in der Klasse. Wenn das keine Identifikationsfigur ist, weiß ich auch nicht. (Martin Pieper)

rororo

Der Gurkenkönig

Ein furchtbarer Unsympathler ist er, der Gurkenkönig, dem der Vater in „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ politisches Asyl gewährt. Während sich die Kinder, die Mutter und der Opa nur ärgern mit dem arroganten und herrscherischen Gurkenkönig, lässt ihn der Vater bei sich im Schlafzimmer leben und freundet sich immer mehr mit dem Fabelwesen an. Der „Gurkinger“ steht in Wahrheit natürlich für die schlechten Seiten des Vaters selbst, die er umsorgt und hütet, während ihm die Kinder immer weiter entgleiten, weil die sich - am Anfang der Pubertät - nicht mehr so einfach umsorgen und behüten lassen. Am Ende müssen die Kinder sich dann erstmals gegen den Vater auflehnen, vordergründig um den unerträglichen Mitbewohner loszuwerden, aber eigentlich um einen Abnabelungsprozess einzuleiten. Eigentlich also ein Lehr-Buch für klammernde (und viel zu oft schreiende) Väter. Vielleicht hat mich die Geschichte so fasziniert, weil ich das Glück hatte mit einem sehr sanftmütigen Vater aufzuwachsen.
Christine Nöstlinger gibt ihrem Gurkenkönig den Namen „Kumi-Ori“ – eine hebräische Phrase aus dem Buch Jesaja, die „Erhebe dich!“ bedeutet. Da die Figur aber so unsympathisch ist, wird ihr eine antijüdische Haltung vorgeworfen. Auf die Frage ob ihre Titelfigur jüdischer Herkunft sei, sagt Nöstlinger: „Der ist eine Gurke, bitte!“ (Christian Pausch)

Gretchen Sackmeier

Nochmal Gretchen. Der aufrichtige, nicht auf den Mund gefallene Teenager mit haufenweise eigenen Problemen und trotzdem immer unermüdlich für alle Anderen da. Die "Gretchen"-Trilogie ist außerdem mein erster Kontakt mit der "Fesch, aber im Grunde ein Idiot" (Florian Kalb) und "Verschroben aber weltklasse" (Hinzel)-Männerkonstellation, die sich prägend in meinem Kopf festsetzt, ebenso wie die Einteilung von Busen in die Typen Zuckerhut und Germknödel. (Pia Reiser)

Der Franz

sonne mond und sterne

Als kleines Kind wurde ich immer wieder für ein Mädchen gehalten. So wie der Franz. Ich hatte lange Locken und lange Wimpern und offenbar sehr mädchenhafte Gesichtszüge. Ich kann mich an eine Situation erinnern, als ich am Spielplatz meine Gaudi hatte und andere Kinder mich gefrotzelt haben: „Du schaust ja aus wie ein Mädchen. Du bist sicher kein Bub.“ Das hat mich gewurmt. Natürlich hab ich mich bei meiner Mutter ausgeweint, und einmal war auch mein Großvater zugegen, der übrigens auch Franz hieß (ihm zu Ehren trage auch ich als zweiten Vornamen den Namen Franz). Meine Mutter und mein Opa Franz versuchten mich zu beruhigen und eine Identitätskrise abzuwenden. Opa Franz gab mir den gleichen Vorschlag, den der Nöstlinger-Franz in einem der Bücher in die Tat umgesetzt hat: „Wenn epper no amål såg‘, dass d‘ a Madle bisch, nåcha zoagsch dena hålt dein Zipfl.“ So mutig wie der Franz war ich dann aber doch nicht. Irgendwann kamen dann halt die Haare ab – Problem gelöst. Wie beim Franz. (Lukas Franz Josef Lottersberger)

Und nochmal: Der Franz

Schon lange vor Harry Potter konnte man einem kleinen Buben beim Groß werden begleiten und sich mit seinen Stärken, aber vor allem Schwächen identifizieren und sich im Bett, beim Lesen kurz vor dem Einschlafen, wieder ein bisschen stärker und mutiger fühlen, zumindest für die Dauer der folgenden Nacht und in all den Träumen, die da auch noch kommen mögen und in denen man die Geschichten vom Franz vielleicht ein bisschen weitererlebt.
Der Franz ist viel zu klein für sein Alter, sieht mit seinem Lockenkopf aus wie ein Mädchen und kriegt eine piepsige Stimme, wenn er sich aufregt. Als jemand, der gerade Lesen gelernt hat und daher seine erste Literatur in Händen hält, wär es vielleicht für zukünftige Entwicklungen besser, man lese zuerst Geschichten von Superhelden und starken Persönlichkeiten, vielleicht aber auch nicht, denn beim Franz hat man es mit einem vertrauenswürdigen und relativ gleichaltrigen ersten Anti-Helden zu tun, den man bei seinen Alltags-Problembewältigungen begleiten kann, ohne sich allzu großer Gefahren aussetzen zu müssen. Und das ist gut so, denn die eigenen Herausforderungen des nächsten (Volksschul-)Tages warten eh schon auf einen und da ist es ganz praktisch, wenn man sich beim Franz und seinen Freunden ein bisschen was abschauen kann.
Ob man vielleicht doch besser mit den Superhelden angefangen hätte, das klärt dann eh Jahre später der Therapeut, oder die Therapeutin, wenn die Nöstlinger mal nicht mehr wirkt. Aber vielleicht wär dann gerade der richtige Zeitpunkt, wieder einmal ein paar Geschichten vom Franz zu lesen. (Stefan Elsbacher)

Rosa Riedl Schutzgespenst

beltz und gelberg

Als der Herr Fischl 1938 von der SA dazu genötigt wird, den Gehsteig mit einem Zahnbürschtl zu putzen, will die Rosa Riedl den Nazis gscheit die Wadln viere richten – und wird prompt von der Straßenbahn überfahren. Aber „wenn einer etwas so dringend zu erledigen hat wie ich damals, wenn einer so zornig und wütend ist, dann kann der nicht richtig sterben, weil er keine Ruhe hat.“ Und so wird die wackere Antifaschistin und Gerechtigkeitsfanatikerin Rosa Riedl zu einem Gemeindebaugespenst. Rosa Riedl ist coole Oma, energischer Hausgeist, idealistische Helferin in der Not – die sich aber auch gerne mal selbst in Schwierigkeiten bringt und Hilfe braucht. Die Literaturgeschichte kennt kein besseres Gespenst. (Michael Fiedler)