Erstellt am: 13. 10. 2016 - 16:15 Uhr
Am Anfang war der Furz
Originalität ist ein rares Gut. Manchmal verliert man in der gegenwärtigen Film- und Serienwelt, mit all ihren Remakes und Reboots, Sequels und Prequels, beinahe den Glauben an neue, unbekannte Visionen. Die Retromania-Welle schwappt weiterhin über die gesamte Popkultur (oder was von ihr übriggeblieben ist) hinweg und weil ihre Strömung so warm und wohlig ist, lassen wir uns alle gerne darin treiben.
Dann kommt plötzlich, in unregelmäßigen Abständen, ein Film aus dem scheinbaren Nichts, der einen daran erinnert, dass originelle Ideen nicht ausgestorben sind. Dass so ein Werk dann nicht nur Euphorie auslöst, sondern fast schon polarisieren muss, beweist auch das aktuelle Beispiel von "Swiss Army Man". Bei der Premiere dieser kaum kategorisierbaren Tragikomödie beim Sundance Festival 2016 wurde, so hört man, eifrig geklatscht, viele Zuseher verließen aber auch aufgebracht den Saal.
Wenn man dem Debütstreifen der beiden Musikvideo-Macher Dan Kwan und Daniel Schreinert, die sich als Regieduo schlicht "Daniels" nennen, etwas vorwerfen kann, dann vielleicht seltsamerweise genau diesen unbedingten Willen zur Originalität. "Swiss Army Man" ist so vollgestopft mit nie gesehenen surrealen Gags und Twists, dass dieses Bombardement manchmal fast schon ermüdend sein kann, zumindest bei der ersten Sichtung.
Thim Film
Ausufernde Collage bizarrer Einfälle
Alles hat für die Schöpfer des vielfach ausgezeichneten Wahnwitz-Videos "Turn Down for What" (DJ Snake & Lil Jon) mit einem Bild begonnen. Bei einem Flug zu einer gemeinsamen Schreibklausur hatten die Daniels plötzlich eine gemeinsame Idee. Ein Mann findet eine Leiche, die permanent und heftig furzt.
Es wäre einfach gewesen, diese Szene in einen grotesken Kurzfilm im Stil von "Interesting Ball" zu verpacken, in dem Kwan und Schreinert sich den durchgeknalltesten Auftritt selber ins Drehbuch geschrieben haben. Aber was die beiden Regisseure viel mehr reizte, war, sich um ihre verblödelte Idee herum eine richtige ernsthafte Geschichte auszudenken.
Mir gefällt dieser Ansatz ganz besonders, weil ich mich immer zu Filmemachern hingezogen fühlte, die von bestimmten Bildern - statt von Inhalten oder gar Botschaften - verfolgt und regelrecht drangsaliert werden. Man spürt bei David Lynch oder Dario Argento regelrecht, dass zuerst einzelne Szenen in ihrem Kopf waren, die der Umsetzung harrten. Und die Story rundherum erst im Nachhinein kreiert wurde, um diesen Ausnahmemomenten einen narrativen Platz zu geben. "Swiss Army Man" ist nun eine einzige ausufernde Collage bizarrer Einfälle.
Thim Film
Das menschliche Mehrzweck-Messer
Am Anfang steht das Close Up eines bärtigen, verwahrlosten Schiffbrüchigen mit einer Schlinge um den Hals. Der arme einsamer Hank (Paul Dano), der auf einer winzigen Insel gestrandet ist, denkt aus Verzweiflung an Selbstmord. Aber genau in dem Moment, in dem er sich die Schlinge um den Hals legt, wird ein Leichnam an den Strand geschwemmt.
Ihr ahnt es natürlich: Ganz so leblos scheint der bleiche Körper nicht zu sein. Dem toten Burschen (Daniel Radcliffe) entweichen lautstarke Gase. Derartig druckvoll furzt die Leiche, dass Hank ihn als menschlichen Jet Ski benutzt, um damit ans Festland zu düsen.
Dort angekommen, schleppt der geschlauchte Hank seinen vermeintlich leblosen Freund mühsam durch mysteriöse Wälder, bis der plötzlich zu stammeln beginnt. Manny heißt der untote Kerl, der sich als wundersames Wesen entpuppt. Mit seinen brennenden Fürzen kann er Lagerfeuer entzünden, aus dem Mund strömt rettendes Trinkwasser. Und das sind nur einige der Fähigkeiten des Mehrzweck-Leichnams, der so praktisch verwendbar wie ein Schweizer Messer scheint.
Thim Film
Reflexionen über das Hier und Jetzt
Paul Dano, spätestens seit "Youth" und dem Brian-Wilson-Biopic "Love & Mercy" soetwas wie eine moderne Indie-Ikone, und Daniel Radcliffe, dessen Filme nach der "Harry-Potter"-Ära immer mutiger werden, hatten bei den Dreharbeiten, hört man, wohl jede Menge Spaß. Was sich aber nach einer vagen Inhaltsangabe wie auf die Spitze getriebener Gross-Out-Humor anhört oder wie eine verkrampft tabubrecherische Horrorkomödie, ist in Wirklichkeit viel mehr.
“Swiss Army Man”, die Geschichte eines introvertierten Losers und seines besten toten Kumpels, berührt und betört auf poetische Weise. Vor allem bei Millennials dürfte der Film mehr Knöpfe drücken, als viele andere Arthouse- und/oder Mainstream-Movies es derzeit vermögen. Die Story, um das Bild vom flatulenten Zombie herum kreiert, ist offensichtlich ein Gefäß, in das die beiden Daniels ihre ganzen Reflexionen über das Hier und Jetzt verpacken.
Der Gegensatz zwischen der physischen Welt und der digitalen Revolution ist zentral in "Swiss Army Man". Der Film feiert Körper-Funktionen und Flüssigkeiten, lässt seine Protagonisten nicht umsonst kurze Augenblicke der Idylle in der freien Natur erleben. Das erlöschende Handy, auf das Hank Fotos seiner unerfüllten Liebe (die tolle Mary Elisabeth Winstead) gespeichert hat, steht wiederum für den Verlust des Realen. "Before the Internet every girl was a lot more special" sagt etwa Hank in einem der vielen großartigen Dialoge, die in der Erinnerung verhaftet bleiben.
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Wenn es einen Vergleich zu diesem Festspiel der Weirdness gibt, dann sind das natürlich die zutiefst humanistischen filmischen Absurdititäten von Regisseuren wie Charlie Kaufman, Spike Jonze und vor allem Michel Gondry. Die Klasse deren bester Filme wie "Anomalisa", "Being John Malkovich" oder "Eternal Sunshine Of The Spotless" erreicht "Swiss Army Man" meiner Meinung nach nicht ganz. Und dennoch muss man diesen komischen, warmherzigen, melancholischen und ja, zugegeben manchmal etwas gewollt verrückten Film wohl ganz fest ins Herz schließen.