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Katharina Seidler

Raschelnde Buchseiten und ratternde Beats, von Glitzerkugeln und Laserlichtern: Geschichten aus der Discommunity.

19. 10. 2016 - 10:50

Schlaflos in London

Kate Tempest und ihr markerschütterndes zweites Album "Let them eat chaos".

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Pete hat ein fertiges Studium, aber er findet keinen Job. Er trinkt zuviel, er erledigt Hilfsarbeiten, er lässt die Tage verrinnen, bis er Becky wieder sieht. Seine große Liebe Becky ist eigentlich Tänzerin, hält sich aber durch Kellnern über Wasser. Außerdem gibt sie abends erotische Massagen, was ihren Freund regelmäßig in den eifersüchtigen Wahnsinn treibt. Petes Schwester Harry ist Drogendealerin. Sie ist gut im Geschäft, aber würde sich lieber daraus zurückziehen und ein Café eröffnen. Die Miete zahlen können und sich selbst irgendwie treu bleiben, das geht in dieser Welt nur kaum zusammen.

Soweit lautete in groben Zügen die Geschichte, die die Londoner Lyrikerin, Slam-Poetin und Rapperin Kate Tempest auf ihrem ersten Album "Everybody Down" im Jahr 2014 erzählt hat. Kurz darauf fand das fiktive Schicksal der drei jungen Menschen, die alle das Glück oder einfach nur ein gutes Auskommen und normales Leben im modernen London suchen, in Tempests Roman "Worauf du dich verlassen kannst" zu einer ausführlicheren Form.

Kate Tempest in s/w

Kate Tempest

Der Fokus hat sich auf dem Album-Nachfolger "Let them eat chaos" geweitet, aber die Probleme der ProtagonistInnen sind dieselben geblieben. Junge und alte Menschen ohne Perspektive und Macht über ihr Schicksal, ein Kontinent, der im Streit zerfällt, ein Planet, der unter der Last seiner rücksichtslosen Menschen zusammenkracht. Sie haben kein Brot? Dann sollen sie Chaos essen.

The kids are alright, but the kids will get older

At any given moment
In the middle of a city
There's a million epiphanies occurring
And the blurring of the world beyond the curtain
And the world within the person
[There's a quiver in the litter
Of an alleyway
He's singing]?

People meet by chance
Fall in love
Drift apart again
Underaged drinkers walk the park
And watch the dark descend
The workers watch the clocks
Fiddle with their Parker pens
While the grandmothers
Haggle with the market men
Here, where the kids play and laugh till they fall apart
As kids chase and dancing to [this mistakes] and darkened rooms
Too fast, too soon
Too slow, too long
Move around all day
But we can't move on

Is anybody else awake?
Will it ever be day again?
Is anybody else awake?
Will it ever be day again?

Overflowing plant pots
Fence posts
Decorated door numbers
Motor black beneath a tarp
Beaten up Punto
Goal posts, painted on that green garage door
There's a rainbow on that wheelie bin
There's stickers in that window
Smart flats
Rough flats
Can't-get-enough-cat flats you know
Seventeen cat flats
Rich flats
Broke flats
New flats
Old flats
Luxury bespoke flats
And 'this has got to be a joke' flats

Pensioners
Toddlers
Immigrants and Englishmen
Families of six kids
Single business woman
Look
Everybody’s here trying to make or scrape a living
A fox freezes on the alley wall and stands still sniffing

Bare branches sway in the front garden
The lionmouth door knocker flaps in the breeze
Street lights glint on the ‘beware of the dog' signs
The beer cans and crisps packets dance with the dead leaves

("Lionmount Door Knocker")

Die sieben gar nicht mehr so jungen Kids auf Tempests zweitem Longplayer haben zuallererst dies gemeinsam: Es ist 4:18 in der Nacht und sie liegen wach. Sie denken über ihr Leben nach, über Job oder Nicht-Job, über Miete, Bezirk und Stadt, gebrochene Herzen und die Horrormeldungen aus dem Fernseher. Sie zählen ihre Fehler und loten die Leere in ihrem Inneren aus, bis das Tageslicht kommt.

"Ist es wirklich das, was es bedeutet, am Leben zu sein?", fragt sich etwa Bradley, ein young professional aus dem PR-Bereich, "single, Tinder and flings, life seems simpler than it's ever been, he's doing well, he's living the dream and he's paying the mortgage of". Wieso fühlt sich dann aber alles so schwer an und das Leben zieht wie hinter einer Glasscheibe vorbei? Bradley hat darauf ebenso wenige Antworten wie Esther, die gerade von ihrer Doppelschicht als Krankenschwester heimkommt, oder Zoe, die ihre Sachen in schwarze Plastiksäcke packt, weil sie sich die Miete ihres schimmeligen WG-Zimmers nicht mehr leisten kann.

"The squats we used to party in are flats we can't afford, the dumps we did our dancing in have all been restored."

Sie alle lernen wir im Laufe von "Let them eat chaos" für die Dauer einer schlaflosen Nacht kennen, bevor sich ihre Spur verliert. Sie sind einsam und mutlos, und nicht einmal die Dichterin selbst, die für ihre Figuren früher noch ein Trost-Versprechen durch Liebe übrig hatte, kann sie nun noch auffangen.

"They abduct kids and they fuck the heads of dead pigs
But him in the hoodie with a couple of spliffs
Jail him, he’s the criminal."

Wake up and love more

Kate Tempest selbst tritt mit breitem, britischem Einschlag als ruhige Erzählerin auf, die die Einleitung zu den nächtlichen Monologen ihrer Figuren spricht. Dann setzt der Beat ein, Tempest verstellt die Stimme und lässt die Gedanken von Bradley & Co. aus der Ich-Perspektive fließen. Man hört ihr die jahrelangen Lyrik-Lesungen und Rap-Konzerte an, so fein nuanciert sie jeden Tonfall, setzt Atem- und Gedankenpausen und spannt Bögen über komplexe Reimschemata, die sich durch ganze Songs ziehen.

Albumcover "Let them eat chaos" Kate Tempest

Caroline International

"Let them eat chaos" von Kate Tempest ist am 7.10.2016 bei Caroline International erschienen

Die Musik, die auf "Everybody Down" stellenweise schon ziemlich aggressiv und dystopisch klingen konnte, geht "Let them eat chaos" in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter. Die wütenden, harten Beats von früher sind auf der neuen Platte einer größtenteils mutlosen, ruhigen und umso unheilvolleren Atmosphäre gewichen. Das Schicksal des einzelnen ist längst zum Zustand der heutigen Welt geworden, und dementsprechend zeigt auch das Cover des aktuellen Albums einen in Flammen aufgehenden, grauen Planeten.

"It's not up to us to make this place a better land", ruft Tempests Ich-Erzählerin im Abschlusssong "Tunnel Vision", wenn sie angesichts ihrer Hilflosigkeit in der Welt die Augen verschließen möchte und ihre Fingernägel betrachtet. Aber wer soll es dann machen?

In einer klaren Sprache präzise Bilder zu entwerfen, die anhand von Momentaufnahmen sehr viel über ein sogenanntes großes Ganzes sagen, das ist die Kunst von Kate Tempest. Sie scheint dabei als so weitsichtige wie menschliche Erzählerin, dass man aufspringen und ihr folgen möchte, wenn sie in der allerletzten Textzeile von "Let them eat chaos" doch noch einen Funken Hoffnung findet: "I'm screaming at my loved ones to wake up and love more, I'm pleading with my loved ones to wake up and love more."