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Alex Wagner

Zwischen Pflicht und Kür

10. 10. 2016 - 12:17

Das Schlimmste kommt zum Schluss

Wer sich von Dirk Stermanns neuem Roman "Der Junge bekommt das Gute zuletzt" eine heitere Bettlektüre erwartet, wird bitter enttäuscht. Tiefe Trauer trieft aus dem Buch, das einen so schnell nicht loslässt.

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Claude ist 13 Jahre alt und wohnt mit seinem Papa (Posaunenlehrer) und seiner Mama (Ethnologin) in Wien. Über Nacht bricht sein Leben zusammen, als ein Indio in die Wohnung einzieht - Mamas neuer Freund. Kurzerhand wird die Wohnung halbiert und in der Mitte eine Mauer hochgezogen. Claude lebt mit seinem Vater auf der einen Seite, auf der anderen leben seine Mutter, ihr neuer Freund und sein Bruder. Die beiden Lager sind voneinander abgeschottet, Kontakt gibt es keinen. Mamas neuer Freund wird von Claudes Papa ohne Widerworte hingenommen, ja beinah in einem Anflug von übertriebener Aufgeschlossenheit und Modernität befürwortet:

Ein Bub, Dirk Stermanns Roman "Der Junge bekommt das Gute zuletzt"

Rowohlt Verlag

"Der Junge bekommt das Gute zuletzt" ist im Rowohlt Verlag erschienen.

"'Sieh mal, deine Mutter ist Ethnologin. Da muss man doch sagen, gut, mit diesem Straßenmusiker, mit dem hat sie sich einen Traum erfüllt. Ein peruanischer Straßenmusiker. Sie ist im Panflötenparadies. Besser, als wenn sie sich einen Pantomimen genommen hätte, oder? Claude? Stell dir vor. Lieber so einen Poncho-Compañero als einen Kerl, der nur so tut, als täte er was, stimmt´s?'
Papa lachte. Ich sah, dass an seinem Schneidezahn Eigelb klebte.
'Claude, wir haben uns das so überlegt. Wir behalten die Wohnung, ziehen aber eine Wand ein. Drüben ist Lateinamerika, bei uns ist Österreich.'"

Claude lebt in einer Patchworkfamilie, die nicht funktioniert, einer Patchworstfamilie. Er darf seine Mutter nicht sehen, weil sie schließlich ein neues Leben habe und Claude sie nur an ihr altes erinnere. Und auch sein Vater ist aufgrund seines Jobs kaum in Wien, findet schließlich eine neue Freundin und gründet wieder eine Familie. Claude passt nirgendwo dazu, familienlos und einsam bleibt er in der Wohnung zurück. Lediglich seine Oma, die eine Straße weiter wohnt und so fett ist, dass sie aussieht, als ob sie seine eigentliche Oma verspeist hätte, kümmert sich um Claude - und Dirko, der serbische Taxilenker, der an Multipler Sklerose leidet. Er wird sowas wie sein Ersatzvater und zeigt Claude die Orte in Wien, an denen Hinrichtungen durchgeführt und die Todesstrafe verhängt wurde.

On Air

Die Rezension zu "Der Junge bekommt das Gute zuletzt" ist am Montag, den 10. Oktober in der FM4 Homebase (19-22h) zu hören und ein "Decide Wisely" mit Dirk Stermann gibt es in der Morning Show (6-10h) am 11. Oktober.

Betäubender Schmerz

Wer sich "Der Junge bekommt das Gute zuletzt" kauft, weil er ein leichtes, humorvolles Buch lesen will, wird spätestens nach dem ersten Drittel enttäuscht. Zwar bietet der Roman eine Mischung aus Wortschmähs, lustigen Missverständnissen und Ekelhumor a lá Heinz Strunk, aber der Roman ist gewollt unwitzig, wie Dirk Stermann im Interview anmerkt:

"Die Arbeit von Christoph Grissemann und mir ist geprägt von einer Art gebrochenem Humor. In dem Fall gerät der Humor sehr in den Hintergrund und die Melancholie und die Trauer überwiegen. Das Ziel war, einen wirklich traurigen Roman zu schreiben, was als Humorist ein bisschen gefährlich ist, weil die Leute immer denken: Warum wird es nicht lustiger? Aber die Geschichte kann nicht lustiger werden. Ich bin auch nicht ganz sicher, ob die Geschichte nicht auch irgendwie ein bisschen positiv ist, das weiß ich selber nicht, obwohl ich sie geschrieben habe. Ich wäre völlig ungeeignet, den Villacher Fasching zu moderieren, weil mir da die Brüche fehlen würden. Ich glaube, dass Mario Barth wahrscheinlich sowas alles nicht hat, aber wenn du dich ein bisschen mit Dingen beschäftigst und hin und wieder ein Buch liest, dann kannst du gar nicht anders, als Humor gebrochen zu präsentieren. Ich lese relativ viel und die Bücher, die mir am meisten haften bleiben, sind in der Regel keine humoristischen Bücher - und das war halt auch das Ziel."

stermann

Gerald von Foris

Lesung

"Der Junge bekommt das Gute zuletzt" live vorgetragen von Dirk Stermann

  • 23.10., 20 Uhr, Rabenhof Theater Wien
  • 22.11., 19 Uhr, Buchhandlung Ennsthaler in Steyr
  • 06.12., 0 Uhr, Literaturhaus Graz
  • 16.12., 19.30 Uhr, Milla in München
  • 17.12., Literatur live: Prater in Berlin

Und so kommt es, wie es kommen soll und Claudes Leben geht noch mehr den Bach runter, als man das wahrhaben will. Wenn er fragt, warum er seine Mutter nicht sehen darf, wird ihm Egoismus vorgeworfen. Wenn er versucht, sich was Neues aufzubauen, wird es zerstört. "Der Junge bekommt das Gute zuletzt" ist zum Pulsadern aufschneiden - und gleichzeitig auf eine sehr schräge Art versöhnlich. Konsequenterweise hat Dirk Stermann die Kapitel seines Romans auch anhand einer ansteigenden Schmerzskala unterteilt:

"Ich hab die Geschichte schon ziemlich früh im Kopf gehabt und bin dann irgendwann auf einen amerikanischen Insektenforscher gestoßen, der von 150 verschiedenen Insekten gestochen worden ist und dann eine Skala aufgestellt hat, welcher Biss am schmerzhaftesten ist. Und diese Skala geht von 0.0 bis 4.0 und der schlimmste Biss ist der Biss der Gewehrkugelameise - auf Englisch 24 Hours Bullet Ant - weil nämlich dieser Schmerz so ist, als würde man dir mit einer Pistole in die jeweilige Stelle aus kurzer Entfernung schießen, aber dieser Schmerz hält 24 Stunden an. Und das ist quasi der Rahmen von Claudes Leben, es wird immer immer schlimmer, so wie die Skala vom Insektenforscher, nur dass es bei Claude bis 5.0 geht."

Bullet Ant

CC BY 2.0, flickr.com, User: gailhampshire

CC BY 2.0; Die Gewehrkugelameise

"Der Junge bekommt das Gute zuletzt" ist ein tieftrauriges Buch, das man besser nicht lesen sollte, wenn man gerade ein bisschen depri ist. Aber dafür schenkt es einem eine emotional bewegende Geschichte, die man von einem Dirk Stermann so nicht gewohnt ist, und die einen noch tagelang beschäftigen wird.

Leseprobe

Im PDF-Format

Aja, und wer von euch jetzt denkt, was für ein Sell Out, das Buch wäre ja wohl für den deutschen Markt konzipiert, allein im Titel müsste es ja "Bub" und nicht "Junge" heißen, der irrt:

"Ich hab in Kärnten am Millstätter See Urlaub gemacht und da ist eine thailändische Köchin, und deren achtjährige Tochter hat dort mit Wiener Schnöselkindern gespielt, die älter waren als sie, und die so arrogant zu ihr waren: 'Mein Papa verdient aber mehr als deine Mama' und so. Und sie hat so cool reagiert. Am nächsten Tag hab ich beobachtet, dass sie bei den Spielen, die sie gespielt haben, schon die Chefin war. Und eine ihrer Regeln, die sie aufgestellt hat und plötzlich gerufen hat, war dann: 'Und Regel Nummer vier: der Junge bekommt das Gute zuletzt.' Also insofern ist das ein gestohlener Titel von dem kleinen Mädchen."