Erstellt am: 26. 11. 2016 - 12:34 Uhr
"Er war es, der ein Kind haben wollte."
Was tun, wenn die eigene Existenz mit einem Schlag zerstört wird? Wenn keine Sicherheit mehr da ist?
Sperr die Tür zu
Von innen war die Tür verriegelt und gründlich durch mehrere Schlösser gesichert. Direkt dahinter stand eine eingerissene Papiertüte, aus der weiße und braune Umschläge ragten. Der Boden war kalt und fleckig von Schmelzwasser und lehmigem Matsch, der auch auf die Tür gespritzt war. Der Flur lag im Dunkeln, obwohl es Morgen war. Der Spiegel an der Wand hing schief und war dreckig. Davor stand Karin, barfuß und nackt, und hielt die Tür zum Badezimmer auf, von wo aus das Licht auf ihren Körper fiel.
Karin beobachtet ihren Körper. Ihren Bauch, der „wie ein leerer Beutel“ herabhängt. Ihre Brüste, die unförmig geschwollen sind, und schmerzhaft so die Haut aufspannen, dass die darunterliegenden, feinen blauen Äderchen sichtbar werden. Sie war vor kurzem schwanger.
Ihr Körper: ein Schlachtfeld.
Seitenrascheln
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Für ihn war der Gedanke an ein Kind ein Fenster, das sich öffnete, für sie war es eines, das sich schloss.
John, Karins Mann, wollte ein Kind. Sie nicht. Er hat ihr erzählt, ja vorgeschwärmt, wie schön es wäre, gäbe es sie zu dritt, als hätten sie einen Menschen, der aus ihnen beiden bestünde. Hätte Karin gewusst, was auf sie zukommt, sie hätte nicht eingewilligt.
Sie sieht sich unfähig, Liebe zu zeigen, eine besonders starke Szene ist die, als die Protagonistin sich überredet, dem schreienden Baby ein Schlaflied zu singen. Es wirkt absurd, in der Situation, an der alles falsch zu sein scheint.
Sie war eine Mutter, das Spiegelbild bestätigte das. Und gleichzeitig war es, als würde sie nicht existieren […].
Jasmine Storch
Die Romanhandlung setzt ein, als Karin schon zur alleinerziehenden Mutter geworden ist. John ist tot. Er wurde Opfer zwielichtiger, illegaler Machenschaften. Jene Geldquellen, die dem verliebten Paar ehemals ein Leben in Reichtum und Luxus ermöglicht haben. Nun haust Karin in der langsam verfallenden, verdreckten Villa im schwedischen Niemandsland. Die nächsten Bewohner sind kilometerweit entfernt, die totale Einsamkeit isoliert Karin in ihrer ohnehin schon fortgeschrittenen Lethargie.
Ullstein
"Die weiße Stadt" von Karolina Ramqvist ist aus dem Schwedischen von Antje Rávic übersetzt im Ullstein Verlag erschienen.
Ich hatte einen schönen Körper
Das Kind saugt sie aus, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Nicht beschönigend wird vom nie endenden, alle BHs und T-Shirts verschmutzenden Milchfluss gesprochen. Vom Unwohlfühlen in der eigenen Haut, vom Weinen über einen Körper, auf den man einmal stolz war. Verlorenes Kapital, in einer Welt, in der die Frau mit ihren optischen Reizen bezahlt.
Das Bargeld geht zur Neige, Karin ernährt sich nur der Notwendigkeit halber von Pizza. Der Lieferant wird mit körperlichen Gegenleistungen bezahlt, um das zu sparen, was noch übrig ist.
Eines Tages klopfen die Pfänder an die Tür. Das Haus ist verschuldet.
Sie wollte nicht störrisch wirken. […] Sie wollte ganz und gar unberührt sein. Als ob sie kalt wäre wie das Eis draußen auf dem See.
Karin beschließt, zu handeln.
Sie fährt in die Stadt, trifft sich mit der alten „Gang“, mit Kollegen, die in dieselben dubiosen Geschäfte verwickelt sind wie ihr Mann. Sie bittet, sie bettelt fast. In diesem ersten Aufbäumen gegen die Widrigkeiten, gegen ihr bitteres Schicksal keimen auch erstmals richtig mütterliche Gefühle für ihr Kind auf.
Sie dachte, dass es trotz allem ein Reichtum war, ein Kind zu haben. Dass sie es vielleicht dazu bringen konnte, Glück zu empfinden, wenn es sonst nichts mehr gab, worüber man sich freuen konnte.
Dein Leben ist dein Leben
„Die weiße Stadt“ ist diesmal nicht Tel Aviv, sondern ist die von Karin entworfene Realität, zumindest in ihrem Kopf. Eine kalte, stumme, abweisende Stadt, ja Welt, in der sie keinen Platz mehr hat. Selbst betäubt von Trauer, immer wieder den Anrufbeantworter mit Johns alten Nachrichten abhörend – nur um sich selbst sofort mit der Wahrheit seines Todes zu konfrontieren. Es ist die Geschichte einer gebrochenen Existenz, einer jungen Frau, die es schließlich doch schafft, aufzustehen und sich aufzubäumen.
Vielmehr aber ist es eine starke, glasklare und spannende Geschichte über Selbstbestimmung, Selbstreflexivität und Ehrlichkeit. Vor allem der Ehrlichkeit gegenüber sich selbst.