Erstellt am: 5. 10. 2016 - 20:45 Uhr
Anspannen - Loslassen
"PME" steht für "Progressive Muskelentspannung" (und nicht für "Post Mortale Erschöpfung" wie die Jury lachend gerätselt hat) und ist eine der bekanntesten Entspannungstechniken. Die Autorin Noemi Schneider hat PME zwar einmal ausprobiert, allerdings wenig erfolgreich. Ihrer ausgezeichneten Kurzgeschichte hat sie eine typische PME-Übung vorangestellt:
FM4 Wortlaut 2016
Der FM4 Kurzgeschichten-Wettbewerb.
Thema: "FALLEN"
- Platz 1: David Fuchs: "Fingerfallen"
- Platz 2: Noemi Schneider: "PME"
- Platz 3: Elisabeth Etz: "Nach Vorn"
- Die großen Zehn
- fm4.orf.at/wortlaut
mit freundlicher Unterstützung von
DER STANDARD
Der Gewinnertext wird im Standard abgedruckt.
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen.
Gehen Sie in Gedanken durch Ihren Körper. Spüren Sie, ob Sie angespannt oder verkrampft sind. Atmen Sie tief ein und dann langsam wieder aus.
Beobachten Sie, wie sich Ihre Bauchdecke beim Einatmen hebt und beim Ausatmen wieder senkt.
Vielleicht können Sie auch spüren, wie die Luft kühl durch Ihre Nase einströmt und vom Körper erwärmt wieder hinausfließt.
Wenden Sie nun Ihre Aufmerksamkeit Ihrem rechten Unterarm zu. Ballen Sie Ihre rechte Hand zur Faust.
Jetzt!
*
Nachdem du die Formalitäten erledigt hast, triffst du Mike in der Raucherecke. Mike ist siebzehn und Praktikant. Er siezt dich und fragt, wie alt du bist und schätzt mal zwanzig. Dann duzt ihr euch. Er fragt, wo du wohnst und schätzt mal 5.
Woher weißt –?
Mike zuckt mit den Schultern. Auf 1 sind die Sprachgestörten, auf 2 die Pflegebedürftigen, auf 3 die Unfälle und Amputierten, auf 4 die Schlaganfälle, auf 5 die Normalen, auf 6 die Psychos.
Du bist erleichtert, denn du bist zwanzig und normal.
Beim Aufnahmegespräch sagt dir der Chefarzt, dass du dreiunddreißig bist und zeigt dir ein Video, in dem eine Gazelle wie blöd durch die Savanne rennt und rennt und rennt und rennt und dann mit voller Wucht gegen einen Baum knallt neben dem drei Löwen liegen und zugucken.
Sie sind die Gazelle, sagt der Chefarzt, aber Sie wollen nicht so enden, deshalb sind Sie hier.
Die Namenlose Protagonistin befindet sich im Soziotop Rehaklinik. Anfangs ist nicht ganz klar, warum sie dort ist. Klar ist nur, dass sie sich völlig fehl am Platz fühlt. Schließlich ist sie ja die einzige, die normal ist. Zumindest ihrer Meinung nach.
Die Jury
- Marcus Fischer (Wortlautgewinner 2015)
- Hans Platzgumer (Autor und Musiker)
- Teresa Präauer (Autorin und Künstlerin)
- Monique Schwitter (Autorin)
- Andreas Spechtl (Musiker)
Die Jury
Die Jury wusste zwar erst nicht genau, wofür "PME" steht, vom Inhalt war sie allerdings gleich begeistert: "hat mich sprachlich beeindruckt und begeistert", "einfach sehr gut geschrieben", "das Stärkste ist diese Mischung aus dieser düsteren Atmosphäre und auf der anderen Seite so ein bisschen Zynismus und Distanz, mit der die ihrem eigenen Körper und ihrer eigenen Krankheit gegenüber steht", "es gibt immer wieder witzige Kombinationen und Wortkonstruktionen", "sehr schlau und gut durchwoben", "obwohl der Text sehr lang ist, liest er sich doch sehr frisch und sehr schnell und hat einen wunderbaren Sog und Fluss", "vielleicht hat er im positiven Sinne eine gewisse Langatmigkeit, aber damit beschreibt er auch die Absurdität und den vielleicht ermüdenden Alltag in so einer Rehaklinik".
Ein Juror resümiert: "Ich hab den Text eher wie einen Episodenfilm gelesen, wie 'Shortcuts' – wo in ganz kleinen Einheiten ein Einblick gegeben wird. Wie wenn man eine Rehaklinik hat und es geht immer ein Licht in einem Fenster auf und du bist kurz Augenzeuge von einer gewissen Begebenheit, die aber dann in ihrer Kürze alles darüber aussagt."
Noemi Schneider fühlt sich sehr geehrt und freut sich, dass die Jury auch das Filmische erkennt. Schließlich hat sie an der Hochschule für Fernsehen und Film München Regie im Bereich Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik studiert. Seit 2008 arbeitet sie als Redakteurin und Autorin für Deutschlandradio Kultur in Berlin. Dort hat sie sich auf Filmkritiken konzentriert.
Beim Schreiben habe sie immer Bilder im Kopf und denke in Schnitten, erklärt sie. In kurzen Schlaglichtern und Episoden erzählt Noemi Schneider oft ganze Biographien.
Beim Schreiben stehe bei ihr erst viel viel mehr da und dann würde sie wie ein Bildhauer alles Unnötige weghauen.
"Der Kroate am Nebentisch steht im Guinness-Buch der Rekorde. Er ist Rekordhalter, im Sachen-mit-bloßen- Händen-kaputtschlagen. Du fragst, ob er dir das beibringen kann, wenn ihr hier raus seid, er sagt, er kann."
*
"Am Wochenende fahren die Anderen nach Hause oder kriegen Besuch. Du fährst nirgendwohin und keiner kommt dich besuchen, denn du hast allen erzählt, dass du in Indien bist."
*
"Du bückst dich täglich fünfmal mit gestreckten Beinen und berührst mit den Händen den Boden. Es tut weh."
Nebenbei schreibt Noemi Schneider u.a. für die FAZ. Ihre Kurzgeschichten, Erzählungen, Reportagen und Essays wurden mehrfach ausgezeichnet. Auch bei Wortlaut hat sie schon einmal mitgemacht und war damals unter den besten Zehn.
Im Frühjahr 2017 erscheint ihr Debütroman "Das wissen wir schon" im Hanser Verlag Berlin. Darin geht es um eine junge unabhängige Frau um die 30, die alles hat und alles weiß. Sie ist Filmemacherin, aber ihre Filmkarriere stagniert etwas. Sie arbeitet in einem verpackungsfreien Supermarkt und ist vor allem wütend und stinksauer, weil alles nicht so gelaufen ist, wie sie sich das vorgestellt hat. Das könnte auch die Protagonistin von PME sein.
Peter Hassiepen
Der zweite Platz bekommt:
- Euro 750
- Veröffentlichung im Wortlaut-Buch, das im Luftschacht Verlag erscheint
- DER STANDARD Goodie Bag
- Ein Jahresabo der Literaturzeitung Volltext
- Ein Jahresabo des Magazins Datum
- FM4 Goodies der Saison
In der Gruppe erfahrt ihr jede Menge Details aus dem Privatleben des Psychotherapeuten. Der Psychotherapeut war einige Zeit arbeitslos, verheiratet und ist seit sieben Jahren Single. Mit seiner Ex-Frau hat er sich um den Hund gestritten. Der Hund ist ein Jagdhund und braucht viel Auslauf, deshalb muss er fünf Minuten früher weg. Der Psychotherapeut sagt, ihr sollt euch eine Autobahn vorstellen. Ihr steht da, die Autos fahren an euch vorbei. Eins nach dem anderen. Ihr sollt ein Auto anhalten, einen Gedanken in den Kofferraum packen und es weiterfahren lassen und dann das nächste anhalten. Und so weiter.
Im Speisesaal beobachtest du die Amputierten und bemitleidest dich. Dem fehlt ein Arm, dem ein Bein. Wem ein Arm oder ein Bein fehlt, sieht man was an. Dir sieht man nichts an.
*
Du liegst im Bett und stellst dir eine Autobahn vor. Die Autos fahren an dir vorbei, eins nach dem anderen. Du versuchst, ein Auto anzuhalten, aber du schaffst es nicht. Du stehst wütend an der Autobahn. Du bist die junge, unheimlich unabhängige Frau um die dreißig, die beliebteste Leistungsträgerin unserer Gesellschaft, attraktiv, erfolgreich, sozial vernetzt. Du hast alles probiert: Akupunktur, Ayurveda, Atlas, Aroma, Chiro, Cranio-sakral, Dorn, Elektro, Fango, Feldenkrais, Fußreflex, Globuli, Kinesio, Kälte, Opiate, Operation, Osteopathie, Pilates, Rolfing, Schröpfen, Schüssler, Triggerpunkt, TCM, Wärme, Vitalogie, Yoga – deshalb bist du hier.
Humor
Humor ist Noemi Schneider sehr wichtig. Das Leben würde doch ganz viel aus diesen absurden grotesken und mitunter unglaublich witzigen und humorvollen Momenten bestehen. Und bei aller Bitterkeit, Schwere und Dunkelheit, die dem Text attestiert wurde, gäbe es doch immer auch eine Leichtigkeit. "Anspannen und Loslassen – das ist auch im Humor ganz wichtig."
Musik
Ausgewählte Musik von Noemi Schneider:
- Garish: Junge Römer
- Two Gallants: Las Cruces Jail
- Mashrou ' Leila: Lil watan
Während des Schreibens braucht Noemi neben genügend Kaffee und Zigaretten vor allem ihre gewohnte Umgebung und Ruhe.
Dennoch spielt Musik in ihrem Leben eine wichtige Rolle von Garish, die sie mal live in der Poolbar gehört hat über Two Gallants, die sie in ihrer Zeit beim Studentenradio entdeckt hat bis hin zu der libanesischen Band Mashrou ' Leila.
Wichtig ist für die Autorin, dass ihre Texte trotz Zynismus zum Nachdenken anregen. Sie erwartet oder erhofft von Literatur, "dass ich da reingehe und irgendwie ein bisschen anders rauskomme. Und dass es was mit mir zu tun hat. Dass ich einen Link finde, der auch zu mir führt. Ein kleiner Flügelschlag Universalität."
Das kann auch als Motto für die Wortlautlesungen am Freitag gelten. Noemi Schneider liest "PME" am Freitag, 6. Oktober, bei der FM4 Wortlaut Party im Phil in Wien um 20 Uhr.
Radio FM4