Erstellt am: 4. 10. 2016 - 19:30 Uhr
Die Suche nach Normalität
"Der Tag, an dem der Port rauskam, war kein besonderer Tag. Nicht mein Geburtstag, nicht der Tag des ersten Schnees und auch nicht der Tag, an dem Birgit Prinz in der Fußball-WM gegen Japan ihr 14. Tor schoss. Hätten wir alle gern gehabt, war’s aber nicht. War ein ganz gewöhnlicher Tag. Mit einem grau bedeckten Himmel und einem ekelhaften Wind, der an den Kleidern zerrte und einem den Staub ins Gesicht blies. Wenn’s drauf ankommt, spielt das Wetter nie mit. Das Radio sprach von Sturmwarnung und in der Nacht hat’s dann auch tatsächlich ein paar Bäume umgelegt. Aber da war ich schon längst zuhause und es erwischte nur mehr die anderen."
privat
Ein Port ist ein kleines Gerät, das bei einer Chemotherapie implantiert wird, damit man die Chemikalien nicht ständig intravenös bekommen muss, erklärt Elisabeth Etz.
Dabei ist "Nach vorn" kein Text über Krebs, sondern beschreibt vielmehr den mühsamen Weg in die Normalität, nachdem etwas Arges passiert ist. Das ist es, was Elisabeth Etz interessiert. "Wie lebt man danach weiter, wenn alle von einem erwarten, es soll jetzt normal weitergehen?"
Nach vorn
Elisabeth Etz hat Germanistik studiert und im Rahmen eines Praktikums Türkisch gelernt.
FM4 Wortlaut 2016
Der FM4 Kurzgeschichten-Wettbewerb.
Thema: "FALLEN"
- Platz 1: David Fuchs: "Fingerfallen"
- Platz 2: Noemi Schneider: "PME"
- Platz 3: Elisabeth Etz: "Nach Vorn"
- Die großen Zehn
- fm4.orf.at/wortlaut
mit freundlicher Unterstützung von
DER STANDARD
Der Gewinnertext wird im Standard abgedruckt.
Derzeit arbeitet sie im Diakonie Flüchtlingsdienst, wo sie Deutsch unterrichtet. Genauer lehrt sie in einem Fachsprachenkurs Deutsch für Leute, die in einem Metallberuf arbeiten wollen. Diese Leute hätten "sehr arge Sachen erlebt", erzählt Elisabeth. Sie seien aber dennoch - mit einem Blick nach vorn - auf der Suche nach Normalität.
Dieses Hinterfragen von Normen, Konventionen und dem Normalen interessiert Elisabeth Etz. Gerade, weil man ja auch viele internalisierte Normen habe, also glaubt, etwas müsse so oder so sein. Im besten Fall will sie mit ihrer Literatur Mut machen, auch anders zu leben.
So auch in ihrem jüngsten Jugendroman "Alles nach Plan". In dem versucht eine Sechzehnjährige einige Dinge zu erledigen, die in ihrem Alter "normal" sind. Soviel vorweg – sie scheitert an jedem Punkt, erlebt aber interessantes Anderes.
Ihre Arbeit und ihr Schreiben beeinflussen sich also durchaus - über Flucht wollte Elisabeth Etz aber nicht schreiben.
"Ein paar Wochen später musste ich ein weiteres Buch entdecken. Eigentlich hatte ich nach etwas ganz anderem gesucht und plötzlich in einer Schublade versteckt ein Kochbuch gefunden. 'Krebszellen mögen keine Himbeeren'. Obwohl ich eigentlich gerade relativ gut gelaunt war, brachte mich der Anblick dieses Buches total aus der Fassung. Ich riss so fest an der Lade, dass sie aus ihrer Verankerung sprang, und knallte sie auf den Boden. Das Buch schleuderte ich gegen die Wand. Ich schwöre, irgendwann bringe ich die Leute, die solche Titel machen, eigenhändig um.
Nachdem mein erster Wutanfall vorbei war, saß ich irgendwann schluchzend am Küchentisch und spürte die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter. Wenn ich die Kraft gehabt hätte, hätte ich sie weggestoßen. Aber ich hatte sie nicht.
Die Wahrheit war nämlich: Krebszellen mögen keine Menschen. Sie mochten insbesondere mich nicht. Sie hatten vor, mich umzubringen. Und so wie es aussah, würde es ihnen auch gelingen."
Gerlinde Egger / Radio FM4
Der dritte Platz bekommt:
- Euro 500
- Veröffentlichung im Wortlaut-Buch, das im Luftschacht Verlag erscheint
- DER STANDARD Goodie Bag
- Ein Jahresabo der Literaturzeitung Volltext
- Ein Jahresabo des Magazins Datum
- FM4 Goodies der Saison
FALLEN
Erstmals hat Elisabeth Etz heuer bei Wortlaut mitgemacht. Als im Frühjahr das Thema "FALLEN" bekannt gegeben wurde, habe sie sich regelrecht gefreut, denn dazu würde ihr Text "Nach vorn" gut passen.
Denn dieser war eigentlich als erstes Kapitel von einem Roman angedacht. Wurde nach einer Adaption aber zu einer ausgezeichneten Kurzgeschichte abgeändert.
"Meine Eltern hatten mir fast nie etwas verboten. Gab auch nicht viel zu verbieten. Im Gegenteil, sie versuchten, mir alles zu erlauben, was nur ging. Auch Dinge, die ich gar nicht wollte. Ich brauchte nur bittend zu schauen und schon kamen sie herbeigesprungen, um mir meine Wünsche von den Lippen abzulesen. Es gibt nichts Schrecklicheres, denn so merkst du jede Sekunde, dass etwas nicht stimmt.
'Könnt ihr nicht normale Eltern sein?', habe ich geschrien. 'Behandelt mich nicht, als wäre ich unfähig!'
Bloß, wenn du so was sagst und im nächsten Moment aufs Klo rennst, um zu kotzen, dann mindert das etwas deine Überzeugungskraft."
"In diese Zeit fiel Fukushima und ich hab am Rande mitbekommen, dass die in der Schule was dazu gemacht haben. Kernenergie und atomare Bedrohung, so in der Art. Da hab ich mir gedacht, dass das doch schön wäre, wenn irgendwo ganz in unserer Nähe ein Heizstab durchbrennen würde und wir alle vom Erdboden gefegt würden. War ein tröstlicher Gedanke. Dass der Supergau mit Alarm und Getöse draußen stattfindet und nicht nur still und leise in mir. Dass ich dann nicht so allein wäre.
Sagen konnte ich das natürlich niemandem. Hätten alle total egoistisch gefunden. Dass ich nicht alleine abkratzen will. "
Die Jury
Die Jury
- Marcus Fischer (Wortlautgewinner 2015)
- Hans Platzgumer (Autor und Musiker)
- Teresa Präauer (Autorin und Künstlerin)
- Monique Schwitter (Autorin)
- Andreas Spechtl (Musiker)
"Nicht schon wieder eine Krebsgeschichte", habe sich eine Jurorin gedacht. Aber das müsse sie dem Text zu Gute halten, "dass er es trotzdem schafft, mich zu begeistern und zu beeindrucken." Einige Auszüge aus dem großen Lob der Jury: "sprachlich gut gearbeitet, toll geschrieben"; "ganz ohne Sentimentalität mit einer Rotzigkeit und Schnauze, die besticht und fasziniert"; "roh und poetisch zugleich"; "eine interessante Perspektive". Und schließlich meint ein Juror: "Ich erkenne ein wirklich ganz starkes großes literarisches Talent."
Elisabeth Etz fühlt sich geehrt und freut sich vor allem, dass die Jury den Text so verstanden hat, wie sie ihn geschrieben hat. Dass es nämlich um die Situation nach einer Krankheit gehe.
Gerlinde Egger / Radio FM4
Birgit Prinz
Die Fußballspielerin Birgit Prinz wird nur im ersten Satz erwähnt. Diese Idee habe sie vom Autor Paulus Hochgatterer, erklärt Elisabeth Etz. Der verbinde in seinen Jugendbüchern spezielle Tage gern mit sportlichen Ereignissen. Die Sportler seien allerdings immer Männer. Deswegen wollte sie mal eine Frau erwähnen.
Dass es sich dabei um eine der bekanntesten Fußballspielerinnen handelt, ist kein wirklicher Zufall - auch Elisabeth Etz spielt Fußball. Derzeit zwar eher weniger, hat sie sich doch beim Spielen das Kreuzband gerissen und erscheint leicht hinkend mit einer Schiene beim Interivew.
Ausgewählte Musik von Elisabeth Etz
- Regina Spektor: All the Rowboats
- Ste McCabe: Acessorise
- Kate Bush: How to be Invisible
Draußen und in Bewegung sein ist sehr wichtig für Elisabeth Etz. Von Radfahren, Wandern, in den Bergen sein bis hin zum Campen. Sie würde auch gern in einem Garten schreiben, vorzugsweise tut sie dies aber in einem ruhigen Umfeld, etwa in der Hauptbücherei. Daheim würde zu viel ablenken.
Musik kann sie beim Schreiben nicht hören, weil sie zu sehr auf die Lyrics fixiert ist.
"Ich hatte mich ein Jahr lang damit beschäftigt zu sterben, jetzt wollte ich mich endlich wieder damit beschäftigen, zu leben. Bloß hatte ich irgendwie vergessen, wie das geht.
Während in den Kalendern der anderen die Termine für Partys und erste Dates immer mehr wurden, häuften sich in meinem bloß die Chemozyklen.
Während ihre Körper das Gewand ablegten, um mit anderen Körpern das erste Mal ins Bett zu steigen, legte meiner die Sachen nur ab, um Infusionen angehängt zu bekommen. Das erste, zweite, hundertste Mal.
Während die anderen bei der Ärztin waren, um sich kleine Pillen verschreiben zu lassen, die 100%ig gegen neu entstehendes Leben schützten, bekam ich große Pillen gegen neu entstehendes Sterben. Wirksamkeit 75 Prozent.
Während die Eltern der anderen seufzten, weil sie zur vereinbarten Zeit nicht zu Hause waren, seufzten meine, weil ich schon wieder nicht nach Hause gehen konnte.
Während die anderen Vokabelhefte anlegten, hätte ich die ganzen neuen Vokabeln am liebsten sofort wieder vergessen. Prednison, Remission, Rezidiv, Alopezie."
Elisabeth Etz liest normalerweise in Schulen.
"Nach vorn" liest sie allerdings am Freitag, 6. Oktober, bei der FM4 Wortlaut Party im Phil in Wien um 20 Uhr.
Radio FM4