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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

28. 9. 2016 - 21:01

"Eine Schande für unsere multikulturelle Gesellschaft"

Beim Labour-Parteitag forderte der wiedergewählte Jeremy Corbyn nicht nur einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", sondern fand auch klare Worte gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Den beleidigten "Moderaten" gehen die Ausreden zum Boykott ihres Parteichefs aus.

Man möge es mir vergeben, ich hatte mich schon völlig ausgeklinkt aus dem destruktiven Chaos in der Labour Party nach dem gescheiterten Putsch der eigenen Parlamentsfraktion gegen Jeremy Corbyn im Anschluss an das EU-Referendum.

Es gibt auch keinen guten Grund, hier noch einmal das unerbauliche Schauspiel des offenen Fraktionskampfs zwischen den Basis-Corbynistas und jenen, die sich „die Moderaten“ nennen, hier noch einmal auszubreiten, jetzt, wo das Ergebnis der missglückten Übung klar vor uns liegt:

Eine beträchtliche Zahl der seit Corbyns Machtübernahme zur Partei gestoßenen 150.000 neuen Mitglieder wurde von einer gestrengen parteiinternen Prüfungskommission ihrer Stimme enthoben, weil sie etwa in der Vergangenheit Tweets der Green Party verbreitet hatten (wie will eine Partei Stimmen gewinnen, wenn Überläufer_innen nicht willkommen sind?).

Und trotzdem setzte sich Corbyn Ende letzter Woche mit knapp 62 Prozent gegen den von der Mehrheit der Parlamentarier_innen unterstützen Herausforderer Owen Smith durch und ging mit einem größeren Mandat als zuvor in den dieswöchigen Labour-Parteitag in Liverpool.

Jeremy Corbyn am Rednerpult

APA/AFP/PAUL ELLIS

Nicht dass die „Moderaten“ sich davon zur Loyalität überzeugen hätten lassen, schließlich pochte eine nach dem anderen von ihnen darauf, dass sie ihr Mandat als Unterhausabgeordnete den Stimmen ihrer Wahlkreise und nicht bloß den Parteimitgliedern verdankten und somit eine größere Verantwortung gegenüber der breiten Bevölkerung trügen.

Wer so argumentiert, vergisst, dass es auch in Großbritannien die Partei ist, die Kandidat_innen nominiert und stellt sich persönlich über die Bewegung, die sie oder ihn auf die grünen Unterhausbänke gehievt hat.
Wenig Wunder, dass derlei Arroganz bei der Basis nicht so gut ankommt.

Demgegenüber steht die anhaltende Empörung über die Härte der Anfeindungen, denen die Moderaten (mir sind die Anführungszeichen ausgegangen) seit Beginn der Corbyn-Ära vor allem in den sozialen Medien ausgesetzt sind.

Und dann ist da noch das von Corbynistas gern verleugnete Thema der Umfragen, denen zufolge Labour trotz des Zulauf an neuen Mitgliedern im nationalen Schnitt auf einen Tiefstand von 26 Prozent abgerutscht ist.

Corbyn, so sagen die Moderaten, sei schlicht unwählbar. Allein die Feststellung, dass man Wahlen gewinnen müsse, um den Konservativen je wieder die Macht zu entreißen, kommt in diesem existenziell verunsicherten Kontext schon einer Attacke auf den Parteichef gleich.

Nicht unironisch dabei, dass sich ausgerechnet Ex-Parteichefs wie Ed Miliband und Neil Kinnock, die selbst einst von der Labour-feindlichen Presse erfolgreich als unwählbar dargestellt wurden, auf dieser Seite des Arguments wiederfinden.

Indessen tobt das Chaos in der Regierung rund um die britische Position bei den auf die lange Bank geschobenen Brexit-Verhandlungen (noch immer ist nicht klar, ob man zum Binnenmarkt gehören will oder nicht, geschweige denn, wann der ominöse Artikel 50 in Kraft treten soll) ohne nennenswerte Herausforderung seitens der mit sich selbst beschäftigten Opposition.

Nachdem man Corbyn vorgeworfen hatte, im Referendumswahlkampf mit seinem mutmaßlich lauwarmen Eintreten für einen Verbleib in der EU bei gleichzeitiger Kritik an deren Linie den eigenen Anhang verwirrt zu haben, haben sich mittlerweile die EU-freundlichen Moderaten selbst in Widersprüche verstrickt:

Owen Smith trat in seiner Kampagne für den Labour-Vorsitz unverblümt für ein zweites Referendum zur Aufhebung des Brexit ein. Verbündete wie der Ex-Schatten-Business-Secretary Chuka Umunna und Ed Miliband forderten gleichzeitig Respekt für den vom britischen Volk mit dem knappen Brexit-Votum angeblich eindeutig demonstrierten Wunsch, die freie Zuwanderung aus der EU abzustellen (immerhin eine Vorbedingung der Teilnahme am Binnenmarkt, ob als EU-Mitglied oder nicht).

Erst gestern hatte die ehemalige Schatten-Arbeits- und Pensionsministerin Rachel Reeves bei einer Veranstaltung am Rande des Parteitags ihren eigenen Wahlkreis in Leeds als Pulverfass bezeichnet, das „in Aufruhr explodieren“ könnte, wenn es keine „offene und ehrliche Diskussion“ über die „legitimen Sorgen“ der Bevölkerung zum Thema Einwanderung gäbe.

Sie untermauerte ihre Forderung nach Zuwanderungsgrenzen mit dem Hinweis auf drei schwere rassistische Attacken in Leeds. „Das Problem ist“, sagte sie, „dass mich das nicht überrascht.“ Das ging dann - nicht bloß in den sensibilisierten Ohren dieses Einwanderers - doch bedenklich weit in Richtung der Legitimation fremdenfeindlicher Gewalt als Ausdruck „legitimer Sorgen.“

Aber Reeves verwehrte sich gleich vorsorglich vor Vorwürfen, sie spiele „rote UKIP“.

„Wirklich beleidigend“ sei das.
Und Beleidigtsein gilt in der bizarren Welt des internen Labour Party-Zwists als wertvolles moralisches Kapital.

Doch diese Geschichte hat nun ein vorläufiges Ende, und zwar in Gestalt der heutigen Abschlussrede Jeremy Corbyns beim Labour-Parteitag, die selbst einen Sicher-nicht-Fanboy wie mich in ihrer Klarheit und Entschlossenheit beeindrucken musste.

Corbyn forderte nicht nur einen „Sozialismus für das 21. Jahrhundert“, der die eskalierende Ungleichheit bekämpft, getragen von einer Offensive gegen die Steuervermeidung der Superreichen und multinationalen Konzerne bei gleichzeitiger Stärkung des Sozialstaats, auch zugunsten unfreiwillig Selbständiger, der Erhöhung des Mindestlohns auf einen echten „living wage“, sowie Investitionen in den sozialen Wohnbau und „Insourcing“ an den privaten Sektor ausgelagerter, ehemals öffentlicher Kompetenzen.

Er rief auch dazu auf, die nötigen Lehren aus dem Irak-Krieg und der Intervention in Libyen zu ziehen und alle Waffenexporte an Saudi-Arabien einzustellen.

Und er sagte der „roten UKIP“-Tendenz seine Meinung zum geforderten Verständnis für die fremdenfeindliche Volksmeinung: „Wir werden keine Zwietracht säen, indem wir die Flammen der Angst schüren“, meinte Corbyn. „Als Politiker_innen, als politische Aktivist_innen, als Bürger_innen müssen wir null Toleranz gegenüber jenen zeigen, die Hass und Zwietracht wecken. Wir müssen gemeinsam gegen Rassismus, Islamophobie und Antisemitismus einstehen und jene verteidigen, die dämonisiert werden. Es ist eine Schande für unsere multikulturelle Gesellschaft, dass Gewalttaten gegen Migrant_innen seit dem Referendumswahlkampf scharf angestiegen sind.“

Gerade gegenüber den Teilen seiner Anhängerschaft vorgeworfenen antisemitischen Tendenzen fand er konkrete Worte: „Lassen sie mich absolut klar sagen: Antisemitismus ist das Böse. Er führte zu den schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Jede_r von uns hat die Verantwortung, sicherzustellen, dass er nie wieder in unserer Gesellschaft gedeihen kann. Diese Partei hat und wird immer mit jedem Atem in ihrem Körper Vorurteil und Hass gegen jüdische Menschen bekämpfen.“

Dass Corbyn sowas überhaupt klarstellen musste, hat zwar auch was zu sagen, aber ja, er musste, und er hat es getan.

Ohne Herumeiern und Relativieren.

So manche Sozialdemokrat_innen in so manchen anderen Ländern würden sowas wohl auch gern einmal wieder hören.

Jetzt liegt es jedenfalls an den vielzitierten Moderaten, sich wieder einzuklinken. Die Ausreden gehen ihnen nämlich zusehends aus. Und was immer man von der Labour Party hält, in Zeiten des Brexit und allem, was der an Verfassungskrisen nach sich zu ziehen droht, braucht Großbritannien ganz dringend wieder eine funktionierende Opposition.

Wenn jene sich endlich zur Einigung bequemt, wird sich die Sache mit der Wählbarkeit früher oder später ganz von selbst lösen.