Erstellt am: 27. 9. 2016 - 15:14 Uhr
Amnesty: Ungarn misshandelt Flüchtlinge
Am kommenden Sonntag wird der ungarischen Bevölkerung bei einem Referendum die folgende Frage gestellt: „Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die verpflichtende Ansiedelung von nichtungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?"
Heute erhebt Amnesty International schwere Vorwürfe gegen die Regierung von Viktor Orbán. Der Menschenrechts-Organisation zufolge werden Flüchtlinge in Ungarn regelmäßig Opfer von Misshandlungen oder auch monatelang grundlos eingesperrt.
![© EPA/GEORG HOCHMUTH Heinz Patzelt](../../v2static/storyimages/site/fm4/20150833/APAAUSTRIA AMNESTY INTERNATIONAL - Snaps_body.jpg)
EPA/GEORG HOCHMUTH
Christoph Weiss: Herr Patzelt, bevor wir auf den Bericht von Amnesty International und die Situation der Flüchtlinge eingehen – was halten sie von diesem Referendum, also von der Idee, die Bevölkerung zu fragen, ob Flüchtlinge ins Land dürfen?
Heinz Patzelt: Was Orbán hier macht, ist sehr gefährlich. Die eigene Bevölkerung zur Verletzung von Menschenrechten aufzuhetzen und dafür Zustimmung einzuholen, das ist genauso, als würde man ein Referendum dazu machen, ob Folter wieder erlaubt sein soll. Was Orbán hier nicht tun will [also das Asylrecht gewähren, Anm. d. Red.], ist verbindlich vereinbart in der EU, hat Gesetzescharakter und ist eine menschenrechtlich wichtige Geschichte. Hier abzustimmen, ob man das doch nicht machen soll – mit einer tendenziös gestellten Frage – ist ein sehr gefährliches Spiel. Wenn man damit einmal anfängt, ist es schwierig, wieder aufzuhören.
Amnesty International erhebt in seinem aktuellen Bericht schwere Vorwürfe gegen die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán. Es gebe regelmäßige, systematische Übergriffe auf Flüchtlinge, Schläge und Tritte, Hunde würden auf Menschen gehetzt. Wie sind diese Schilderungen im Bericht von Amnesty zustandegekommen?
Wir haben viele Zeuginnen und Zeugen gefragt, insgesamt über 100 Leute. Das Bild ist sehr eindeutig: Hier wird ganz systematisch gedemütigt und Gewalt angewendet, mit einem erklärten Ziel – Abschreckung. Niemand soll mehr auf die Idee kommen zu glauben, dass es irgendeinen Sinn hat, nach Ungarn zu wollen oder auch nur durch Ungarn ins „gelobte Land“ der EU zu wollen. Es wird mit Gewalt, Brutalität, Demütigung und Erniedrigung gearbeitet, um Menschen fertigzumachen und um anderen ein Signal zu schicken: „So geht es euch auch, wenn ihr auf die depperte Idee kommt, hier rein zu wollen!“
Es gibt in Ungarn ein neues Gesetz. Dieses Gesetz erlaubt es den Sicherheitsbehörden, Menschen auf der Flucht von ungarischem Territorium aus zurück nach Serbien zu drängen – und zwar aus einer acht Kilometer weiten Zone innerhalb Ungarns. Welche Rolle spielt dieses Gesetz bei den von Amnesty International kritisierten Übergriffen auf die Flüchtlinge?
Was Orbán hier in Gesetze gießt, ist Rechtsmissbrauch. Das Asylrecht, zu dem sich auch Ungarn verpflichtet hat, ist ein Versprechen, Menschen, die vor Terror, Folter, Mord und politischer Verfolgung fliehen, eine sichere neue Heimat zu geben. Diese Menschen nicht ins Land zu lassen, ist schon barbarisch. Diesen Menschen aber, wenn sie es einmal auf ungarischen Boden geschafft haben, zu sagen: Jetzt habt ihr erst recht wieder verloren, denn wir machen eine willkürliche 8-Kilometer-Grenze, wo wir so tun, als wäre Ungarn noch gar nicht Ungarn, damit wir euch wieder hinausprügeln können – das ist so niederträchtig und widerwärtig, dass es unvorstellbar ist, dass das auch noch in einer parlamentarischen Versammlung durchgeht.
Auf der serbischen Seite der ungarisch-serbischen Grenze gibt es mehrere Lager, wo Tausende Flüchtlinge oft wochenlang ausharren. Wie ist die Situation dort?
Der Begriff „Lager“ ist dafür noch ein sehr freundlicher Ausdruck. Die Menschen versuchen bei immer kälteren Temperaturen völlig frei in wilder Natur zu überleben, bis sie vielleicht mit irgendeinem Glückslotterie-Los doch eine Chance bekommen, sich in Ungarn einem Asylverfahren auszuliefern. Freiwillig beantragt man das dort nicht, es ist die einzige Möglichkeit, nicht sofort wieder ins Gefängnis zu kommen. Die hygienischen Zustände sind unbeschreiblich. Hunderte oder Tausende Menschen sind auf einem Fleck, aber es gibt keine WC-Anlagen. Es gibt Konflikte um die wenigen Nahrungsmittel. Es ist entsetzlich dort, und es ist nur wenige Hundert Kilometer von unserer Grenze entfernt. Wir haben unseren Anteil daran, dass es dort so ausschaut, mit unserer zunehmend abschreckenderen Politik auch in Österreich.
Und noch härter geht die ungarische Regierung laut Bericht auch mit alleinreisenden Männern um. Stehen die für die ungarische Regierung alle unter dem Generalverdacht, IS-Mitglieder zu sein?
Hier wird ganz mies und böse gezündelt. Wer Mann und Moslem ist, wird als Terrorist verdächtigt. Dass man Menschen mit unterschiedlicher Einstellung und unterschiedlicher Herkunft so pauschal unter einen bösartigen Verdacht stellen kann, ich glaube, ich brauche das nicht weiter zu kommentieren. Die Absicht dahinter ist aber klar. Orbán spricht sie auch aus. Er möchte ein „ethnisch reines“ Ungarn haben, er möchte eine „illiberale ungarische Demokratie“, was auch immer das bedeuten soll. Das spüren vor allem die Schwächsten als Allererste.
Siehe auch:
„Abschreckungspolitik“ der Regierung auf ORF.at
Orbáns Ungarn bricht laut Amnesty International die Regeln des Asylrechts und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die EU-Institutionen sind Ihrer Meinung nach zu feig, die Rechtsverletzungen zu verfolgen. Welchen Weg sollte die EU einschlagen, um die ungarische Regierung wieder auf den Boden der Menschenrechtskonvention zu holen?
Die Europäische Union hat einen Wertekern: Freiheit, Sicherheit, Menschenrechte. Wenn man so wie im Fall Ungarns jahrelang dabei zuschaut, wie ein immer autoritärer werdendes System Menschenrechte von Journalisten, von Richtern, von den Trägerinnen des Rechtsstaates wegräumt, von den Minderheiten in Ungarn immer weiter wegnimmt, darf sich dann nicht wundern. Orbán und sein System haben gelernt, dass das, was einmal funktioniert hat, eben immer funktioniert. So wegzuschauen, so feig in die Knie zu gehen vor dermaßen eklatantem Rechtsbruch, ist eine schwere Verfehlung an unseren gemeinsamen Grundwerten. Die EU und ihre Kommissionsmitglieder wissen natürlich genau, dass manche der Mitgliedsstaaten vielleicht noch formell aufschreien, aber in Summe dankbar dafür sind, dass Ungarn den Drecksjob für sie macht. Das gilt leider auch für Österreich.