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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

23. 9. 2016 - 20:52

Die farblose Insel

Vor der Entfremdung des Sounds bzw. Die utopische, antirassistische Nostalgie - oder was es acht Tage nach Premiere der Beatles-Doku "Eight Days A Week" noch zu sagen gäbe.

Ursprünglich war das mit dem Bloggen ja wohl so gedacht, dass man auf Plattformen wie dieser schnelle Gedanken rausschießt.

Bei mir kippt das aber gern ins Gegenteil. Mangels Deadline sind's dann oft die ganz langsamen Brüter, die hier zum Vorschein kommen.

Am Montag schon hatte Kollege Boris angefragt, ob ich nicht was zu dem Beatles-Film „Eight Days a Week – The Touring Years“ schreiben wollte, zumal ein Beitrag darüber in der Homebase laufen würde.

Beatles-Single-Cover Eight Days a Week

Parlophone

"Ja, aber erst morgen", war meine optimistische Antwort, aber dann saß ich am Dienstagnachmittag stattdessen mit einem meiner großen Helden zusammen:

Brian Godding, einer der Begründer, hauptsächlicher Songwriter und mittlerweile eines von nur mehr zwei überlebenden Mitgliedern der unterbelohnten, fabelhaft schlauen und musikalisch abenteuerlichen Sixties-Band The Blossom Toes, die später in den Siebzigern B.B. Blunder hießen (einen ihrer besten Songs namens „Seed“ spielte ich am Montag in meiner Sendung).

Irgendwann kamen Brian und ich auf den Beatles-Film zu sprechen, den er nicht gesehen hatte.

Was aber keine Rolle spielte, denn Brian ist einer jener privilegierten Zeitgenoss_innen, die das, was nun dank der Restaurationskünste des Digitalzeitalters für Spätgeborene immerhin ansatzweise nachvollziehbar wird, selbst als Augenzeuge miterlebten.

Die Erkenntnis, was für eine kraftvolle Live-Band die ersten Meister der Pop-Studiokunst eigentlich waren, ist für ihn nichts Neues. Er sah die Beatles 1963 bei einem locker gefüllten Gig in einem Ballsaal spielen, und das Erlebnis hat den 71-Jährigen seither nicht verlassen.

Er erinnert sich an die anderen Merseybeat-Acts der Package Tour, von Freddie & The Dreamers bis zu Gerry & The Pacemakers, allesamt beeindruckende Bands. Und an den Moment, als zwei Roadies die Vox-Verstärker der Beatles nach vor rückten und John, Paul, George und Ringo in ihren hellbraunen Anzügen mit dunkelbraunem Kragen auf die Bühne liefen.

„Sie steckten ihre Gitarren an und legten im selben Augenblick mit 'I Saw Her Standing There' los. Da gab es kein Überlegen, keinen Soundcheck, sie waren sofort in der Musik drin. Sie spielten völlig fehlerlos und erzeugten einen unglaublichen Druck. Und zwischen den Songs machten sie sich ständig über sich selbst lustig, sie hatten offensichtlich großen Spaß.

Offenbar hatten sie vorher backstage was gegessen, denn auf John Lennons Schulter klebten die Reste eines Spiegeleis, und mit Fortdauern des Gigs lief das Dotter die Brust seines Anzugs hinunter. Die ganze Zeit über sahen sie keinen Augenblick auf ihre Gitarren, und ich konnte mir nicht erklären, wie sie es anstellten, dass ihre Finger immer am richtigen Platz landeten. Diese Beatles waren nicht aus dem Blauen heraus auf der Bildfläche erschienen, sie waren völlig abgebrüht und wussten ganz genau, was sie taten.“

Genau das ist der Eindruck, den die Live-Mitschnitte in „Eight Days a Week“ vermitteln.
McCartneys Bass pumpt und groovet.
Ringo Starr rockt und swingt zugleich, wie nur er das konnte.
Harrisons Licks, die wir von Studioversionen her kennen, als er die frisch eingeprobten Parts noch etwas linkisch aus dem Hals seiner Gretsch quetschte, klingen live flüssig und sexy. Unfassbar, was er mit nichts als zwei Pick-up-Einstellungen an dynamischen Sounds erzeugt, unter anderem, indem er zu seinen Plektrumschlägen mit dem kleinen Finger die Oktaven zupft.
Selbst Lennon entlockt seiner spielzeugformatigen Rickenbacker lockere Rhythmen und Läufe, was seine Wortmeldung in einem der Interview-Ausschnitte „I'm John, and I play better guitar“ gar nicht so ironisch erscheinen lässt. Und die Vokal-Arrangements sitzen dabei so gut, dass man eine der – eh altbekannten – Hauptthesen der Films, die Band habe sich wegen der Schreie der Mädchen selbst nicht spielen gehört, kaum glauben kann.

Ein junger Paul McCartney verteidigt das weibliche Gekreische gegenüber einem Interviewer, indem er es mit dem Gebrüll von Männern bei Fußballspielen vergleicht. Keine Frage, wer dabei besser wegkommt.

George Martin wiederum weist darauf hin, dass die Beatles damals keine Monitor-Boxen zur Verfügung hatten und mit der eigenen Musik im Rücken in den Dauerlärm aus dem Publikum hineinspielten.

Und Ringo erklärt, er habe sich zwecks Halten der Time am Schwingen der drei Hintern vor ihm orientiert.

Die Filmaufnahmen geben ihm allerdings unrecht. Da sieht man genau, wie George sich zwischendurch immer wieder zu ihm umdreht und ihm beispielsweise den Taktwechsel in „Ticket to Ride“ andeutet, oder wie Paul dirigentenartig mit der Schlaghand rudert, wenn ein Break vonnöten ist. Auch der alte Beatles-Trick, den Harmonie-Gesang zu zweit in ein Mikro zu singen, entpuppt sich bei genauerer Beobachtung als die genial simple Strategie, einander gegenseitig aus nächster Nähe ins Ohr zu singen.

Man könnte das mit dem fehlenden Monitoring also auch andersherum sehen: Wir leben in einer Zeit, wo Bands in der Parallelwelt ihres Monitor-Mix und luftdichter Ohrenstöpsel Ableton-gesteuerte Gigs spielen und dabei eine völlig klinische, abgehobene Version dessen hören, was im Raum passiert.

Die Beatles und die Bands ihrer Zeit dagegen spielten im Raum und mit dem Raum. Vielleicht hörten sie ihre Musik nicht so genau, dafür kommunizierten sie körperlich miteinander, hörten, was aus dem Saal zurückkam und waren so selbst ein Teil der großen, brodelnden Suppe.

Sicher muss es in Wahrheit scheiße geklungen haben, als die Beatles '65 im Shea Stadium unter freiem Himmel vor 56.000 Menschen mit ein paar 100-Watt-Verstärkern spielten und dazu durch die vorsintflutlichen Hörner des Stadionsprechers sangen, aber man merkt dem (nur in der Kino-Version!) an die Doku angehängten Mitschnitt jenes Konzerts auf mitreißende Weise an, dass es da mangels PA- und Monitorsystem keine Entfremdungsebene zwischen der Band und ihrem Gesamtsound gab.

Nach meinem Besuch bei Brian Godding hörte ich mir übrigens gestern „Love Bomb – Live 1967-69“, die in kleinen Clubs aufgenommene, äußerst raue Live-Compilation der Blossom Toes an, und musste mir dabei wieder dasselbe denken.

Was allerdings nach den acht Tagen, seit ich „Eight Days A Week“ gesehen hab, fast noch lauter in meinem Kopf nachklingt als die Musik, ist die Aussage einer Zeitzeugin, die Beatles seien für sie „farblos“ gewesen – farblos im Sinne von „ohne bestimmte Hautfarbe“.

Ich weiß nicht einmal mehr, ob der Satz von Whoopi Goldberg kam, die die Band gemeinsam mit ihrer Mutter im Shea Stadium gesehen hatte, oder von der Historikerin Dr Kitty Oliver, die sie 1964 in Jacksonville, Florida, erlebte und dabei als Afroamerikanerin zum ersten Mal neben Weißen saß.

Die Geschichte, wie die Beatles vor diesem Konzert den Veranstaltern (erfolgreich) mit Absage drohten, wenn nicht die Rassentrennung im Publikum aufgehoben würde, nimmt in Ron Howards Film zurecht prominenten Raum ein.

1971 beschrieb Charles Mingus in seiner Autobiographie „Beneath the Underdog“ im Rückblick auf die Jazz-Szene der Fünfzigerjahre die Welt der Musik als „colorless island“.

In den mittleren 1960ern erweiterte der Einfluss der frühen Beatles die Grenzen dieser Insel so mühelos über das gesamte Territorium der Massenkultur hinweg, wie es vorher nicht einmal Elvis und später allerhöchstens noch den Bee Gees oder Michael Jackson gelang (und ich spreche hier dezidiert von Farblosigkeit, nicht von erfolgreich via Blues, Soul, Reggae oder Hip Hop in den weißen Mainstream importierter Blackness).

Die Einschränkung auf die „frühen Beatles“ scheint mir hier nötig, nachdem ich heute morgen Michelangelo Matos' Doppelrezension von Jon Savages „1966 – The Year The Decade Exploded“ und David Hepworths „Never a Dull Moment: 1971 – The Year That Rock Exploded“ gelesen hab.

Matos erinnert dabei nicht nur an Daryl Halls Behauptung aus dem Jahr 1982, der frühe Rock'n Roll sei eine „integrierte Musik“ gewesen, in der es „keinen Unterschied zwischen schwarz oder weiß“ gegeben habe. Er spricht auch die Kernthese eines kommenden Buchs von Jack Hamilton namens „Just Around Midnight: Rock and Roll and the Racial Imaginary“ an. Derzufolge markiert das „Sgt. Pepper“-Album der Beatles 1967 jenen Moment, da „Rock“ sich aus dem Bezugsuniversum jener integrierten Rock'n Roll Welt entfernte.
Den Punkt also, da die Rockmusik sich zu einem männlich weiß definierten Genre entwickelte.

Ich hab Hamiltons Buch naturgemäß noch nicht gelesen und frage mich einmal vorsorglich, wie Jimi Hendrix in dieses Narrativ passt, aber der Gedanke ist grundsätzlich sicher kein falscher.

Rock, so zitiert Matos Robert Christgau, sei „Rock and Roll, der sich seiner selbst als Kunstform bewusst wird.“ In anderen Worten: Als „Tommy“ 1969 die Opern eroberte und die Rockmusik ihren Platz im weißen Kultur-Kanon einnahm, verließ sie damit auch die farblose Insel und hat bis heute nicht ihren Weg dorthin zurückgefunden (geschweige denn ernsthaft gesucht).

Beim Ansehen von „Eight Days a Week“ stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Invasion des Mainstream durch die Musik der farblosen Insel länger als die zwei, drei kurzen Jahre vom Beginn der Beatlemania bis zum letzten Gig im Candlestick Park, San Francisco, andauern oder gar überdauern hätte können.

All diese Gedanken sind zugegebenermaßen nicht ganz neu, die Beatles hegten sie wohl selbst schon, als sie 1969 während der „Let it Be“-Sessions Billy Preston, den sie sieben Jahre zuvor in Hamburg als Organist in der Band von Little Richard kennen gelernt hatten, als Tastenspieler in ihr Back-to-the-Roots-Projekt involvierten.

Bekannter- und bezeichnenderweise scheiterte dieses Projekt, auch wenn jenes Scheitern im Nachhinein angesichts des restaurierten Mitschnitts des einzigen Gigs dieser Besetzung auf dem Dach des Apple-Gebäudes in der Londoner Savile Row eher wie ein leichtfertig vergeudeter Triumph erscheint.

Das scheinbar naive Konzept der Farblosigkeit wirkt im derzeitigen Klima der aus politischen Interessen geschürten Kulturkämpfe jedenfalls ungefähr so anachronistisch wie die Vorstellung eines rassengetrennten Publikums aus Sicht der Beatles im Jahre 1964.

Zwischen neu auflebendem, ungeniertem Rassismus und der von „progressiver“ Seite her neue Rassengrenzen postulierenden Cultural-Appropriation-Debatte mutet die Utopie von Jacksonville so fremd an wie noch nie zu unserer aller Lebenszeit. Als Fortschritt ist das sicher nicht zu werten.

Schon allein deshalb lohnt es, sich „Eight Days a Week“ als zeitgeschichtliches Dokument anzusehen. Und danach, falls man so ein sentimentales Ei ist wie ich, ein bisschen über das Versinken der farblosen Insel zu trauern. Man möchte es kaum glauben, aber Pop-Nostalgie kann heutzutage tatsächlich im guten Sinne politisch sein.