Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Immer mitten in die Fresse rein"

Lisa Schneider

Hören, lesen, schreiben

17. 10. 2016 - 11:29

Immer mitten in die Fresse rein

In Philipp Winklers Debütroman "Hool", der ihm einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis beschert hat, geht es vor allem um zwei Dinge: Prügeln und Verprügeltwerden.

Ich wärme meinen neuen Zahnschutz in der Hand an. Wende ihn mit den Fingern und presse ihn etwas zusammen. So mache ich es vor jedem Kampf.

Heiko Kolbe, Ich-Erzähler des Romans, wärmt sich für die Schlacht auf. Er ist Mitglied der Hooligan-Gruppierung rund um den Fußballverein Hannover 96, für den er und seine Freunde so ziemlich alles tun würden. Dazu gehört, sich in regelmäßigen Abständen außerhalb des Stadions – sonst würde die Polizei ja einschreiten – auf Feldern, in alten Fabriken oder sonstigen abgelegenen Orten zu treffen, um dort so richtig auf einander einzudreschen. Gebrochene Schlüsselbeine und Kiefer, Blut, das aus allen möglichen Körperöffnungen spritzt oder rinnt, Gesichter in den Farben eines verfaulenden Obstkorbs. Wie viele ausgeschlagene Zähne ich gezählt habe, weiß ich nicht mehr.

Der Autor Philipp Winkler

Kat Kaufmann

Philipp Winkler

Kneipenslang

Die Authentizität, für die Philipp Winkler vor allem auch von SchriftstellerkollegInnen gelobt wurde, wird zuerst unter anderem dem Milieu zugeschrieben, in dem die Geschichte spielt. „Am Boden der Gesellschaft“, in zwielichtigen Kneipen, auf der Straße. Jeder Ort des Romans ist auf seine Weise heruntergekommen, verdreckt, ungemütlich. Im physischen wie im psychischen Sinn.

Coverbild Roman "Hool" von Philipp Winkler

aufbau Verlag

"Hool" von Philipp Winkler ist im aufbau Verlag erschienen.

Eine Leseprobe gibt es hier.

Der Roman hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Der Deutsche Buchpreis wird heute, Montag, vergeben.

Heiko nahm Reißaus von Zuhause, als er noch nicht einmal volljährig war. Wenn es dort nicht mehr passt, muss man eben gehen. Egal, welches Alter man erreicht hat, so Heiko. Der Vater ein notorischer Säufer und kompromissloser Nichtsnutz, die Mutter wahrscheinlich genau deshalb verschwunden. Die Schwester, die sich in vermeintliche Vorstadtidylle stürzt, um sich in die Karikatur des Lebens zu verwandeln, das Heiko nie haben wird. Vielleicht auch nie haben will.

Wie sie das Ende von Kaffee betont. So gewollt überkorrekt, damit sie auch ja nicht Kaffe sagt. Da stellen sich mir die Arschhaare auf.

Heikos wahre Familie sind die Hooligans, sind Ulf, Kai, Jojo. Die allesamt Plattdeutsch sprechen – oder Schlimmeres. Die Abende verbringt man – man, denn weibliche Charaktere, die von entsprechender Präsenz oder Wichtigkeit sind, sucht man in der Geschichte vergebens – im „Timpen“, einer noch „echten“ Hannoveraner Stammkneipe. Die nicht zu einem Yuppie-Ort hochgeschnöselt wurde. Pflegt dort Totengedenken ehemaliger Vereinsmitglieder, deren Verlust noch nicht überwunden ist. Dort trinkt man nicht Bier, sondern „Elefantenpisse“ oder „brackigen Moorschlamm“.

Ich fühl mich jedes Mal aufs Neue ein bisschen wie in einem Museum, wenn ich hier sitze und mein Pils süffle. Den Gesprächen von früher lausche. War ja alles besser, tarammtammtamm.

Koks und Tiger

Skurrile Gestalten begleiten Heikos Weg: Er arbeitet im Fitnesscenter seines Onkels, das erste Bier gibt’s um zehn Uhr vormittags, die ersten Dealer kommen zu Mittag. Gemeinsam werden die Lines im Hinterzimmer gesnifft, gehandelt wird mit dem, der Geld hat. Wobei sich Heiko und seine Kumpels, ohne dezidiert von ihnen erwähnten Grund, mehrmals gegen die als "Glatzköpfe" bezeichneten Nazis wenden und ihnen die Schädel einschlagen. So wie allen anderen „Pimmelköppen“, „Flachwichsern“ oder „Homos“, die ihnen sonst so im Weg stehen.

Abgesehen von ihrem wichtigsten Feindbild, den anderen Hooligan-Gruppierungen deutschlandweit, positionieren sich Heiko und seine Freunde nämlich nicht. Nicht politisch und auch nicht gesellschaftlich. Grenzen werden innerhalb der Gruppe keine gezogen: Wo Heiko ein zorniger, aber im Grunde oft auch gutherziger (die Szenen, in denen er sich um die Tiere seines Mitbewohners kümmert, verraten es) junger Mann ist, der sich durch schäbige Wohn- und Arbeitsumgebung am erwähnten "Boden der Gesellschaft" entlang hantelt, gibt es durchaus auch andere Charaktere unter den Hannoveraner Hooligans, die als deutsche Beamte, ja teils als biedere Familienväter durchgehen würden.

Besser wird's nicht

Und auch in seinem jetzigen Zuhause, falls man dieses so bezeichnen kann, findet Heiko keine Ruhe. Gerade verlassen von seiner heroinsüchtigen Freundin, muss er seinem verrückt-paranoiden Mitbewohner Arnim, der seine Kontakte zu russischen und anderen Mafiabossen genauso stringent pflegt wie seine Allüren als professioneller Tierquäler, bei dessen irren Vorhaben unterstützen. Da wird eigens eine Arena angelegt, in der tobsüchtige Kampfhunde auf einen Braunbären gehetzt werden, oder etwa ein Tiger über die polnische Grenze transportiert.

Was wir hier schon für Viecher hatten. Dieser Bär, klar. Aber auch Wölfe hatten wir. Einen verdammten Stier! Und dann war da noch, vor zwei Jahren, dieses alte, wildgewordene Schimpansenmännchen.

Schrägerweise sind die Szenen, in denen sich Heiko um eines der Untiere, einen riesigen Geier, den Arnim in einem verließähnlichen Unterschlupf hält, die rührendsten. Das sind auch die Momente, in denen ein Charakter aufblitzt, der im Grunde genommen anderen Lebewesen, ob Mensch oder Tier, nichts Böses will, seinen unstillbaren Zorn aber nicht anders – und vor allem nicht durch Worte – artikulieren kann.

Dann lieber zurück zur „affenfotzenverhurten Pissscheiße“

Philipp Winkler hat in Hildesheim „Literarisches Schreiben“ studiert – dass er einer gewissen schulischen Dramaturgie folgt, indem er gekonnt die Kapitel in Zeitsprüngen zwischen Vergangenheit und Gegenwart anordnet, zeugt davon. Ohne dass die Geschichte auf ein dezidiertes Ende zuläuft, sie mehr eine Ansammlung von Anekdoten ist, wird durch diese Erzählweise eine ganz eigene Dramatik erschaffen. Wo die Schule oder der Drang, etwas „Künstlerisches“ oder gar „Schönes“ zu schaffen, aber übers Ziel hinausschießt, sind die Momente, in denen Winkler die Klangfarbe wechselt.

Seitenrascheln

Mehr Empfehlungen für den Lese-Herbst gibt es hier.

„Hool“ ist ein brachialer, direkter und zorniger Roman, der von seiner Sprache und deren Tempo lebt. Szenebeschreibungen wie

Der weichgezeichnete Umriss der Stadt baut sich im bläulichen Morgenlicht vor uns auf. Vor den bröckelnden, wie ausgebombt aussehenden Fassaden ausrangierter Fabriken liegt ein feiner Schleier.

oder

An einem Tag wie heut hat man da so einen weiten Blick über das flache Land, dass man fast glaubt, man könne in den Himmel fallen.

lassen mich beim Lesen fast ein bisschen zusammenzucken, so wenig passen sie in die sonst teils ekelerregenden, aber eben klar formulierten Szenen. Das ist sehr oft sehr grausig, nicht selten möchte man die detailgetreuen Beschreibungen von Schnittwunden, aufgeplatzten Lippen oder dunkelschattiert geprügelten Augenlidern gar nicht lesen; aber andererseits sind es genau die rohen Worte, die einen in die Geschichte hineinziehen und ans Buch fesseln.

Weil in Zeilen wie „Leipzig ist kälter als der Schritt einer einbeinigen, teuren Nutte“ liegt, wenn auch im derbsten Kneipenslang, die dem Roman „Hool“ ganz eigene Poesie.