Erstellt am: 3. 10. 2016 - 06:00 Uhr
Es bleibt ein großes Geheimnis
Vier Jahre verzweifelte Pause: Justin Vernon, der Mann hinter Bon Iver, hat eine Auszeit genommen. Nach der romantischen Geschichte, wie er sich eines kalten Winters vor gut zehn Jahren in der Jagdhütte seines Vaters in Wisconsin zurückgezogen hat, um dort sein hochgelobtes Debütalbum aufzunehmen, brach der Erfolg herein.
Cameron Wittig & Crystal Quinn
Dabei hatte er nicht viel mehr Dinge mit als Gitarre und Dosenfutter, genauso wenig die Ambition, Indiefolk-Amerika und auch den Rest der Musikwelt auf den Kopf zu stellen. Völlig ungeplant fängt er damals den Zeitgeist ein und das sogar optisch. Justin Vernon trägt Vollbart, aber nicht, weil er die Fährte "Lumbersexual" des letzten Hipster-Schreis erschnuppert hat.
Wahrscheinlich hat und hatte er einfach keinen Rasierer dabei.
Vor dem Fall
Vor ein paar Monaten war Bon Iver mit Kanye West für ein Feature im Studio. Das klingt dann so.
Schon für Kanyes Album "Lost In The World" (vom 2010 veröffentlichten Album "My Beautiful Dark Twisted Phantasy) hat Bon Iver Teile seines Songs "Woods" zur Verfügung gestellt.
Debütalbum erfolgreich, zweites Album sehr erfolgreich. Zwei Grammys bringt es ihm ein, Kollaborationen unter anderem mit Kanye West. Der ihn - neben sich selbst - als spannendsten derzeit lebenden Künstler bezeichnet. Justin Vernon ist Multiinstrumentalist und Produzent. Viele befreundete Musiker wissen und schätzen das, lassen sich unter die Arme greifen. Nach der ersten Krise, die ihn hinauf in den Wald gescheucht hat, scheint alles in Ordnung. Aber die Depression kehrt zurück, man liest in Klatschspalten von einem Nervenzusammenbruch. Was es am Ende auch war: Das Projekt Bon Iver strauchelte, brauchte eine Pause. Wie es weitergehen würde, war unklar.
Vier Jahre hat Justin Vernon am neuen Material getüftelt. Die letzten Wochen waren voll von Hinweisen auf das neue, sagenumwobene Album "22, A Million". Die ersten beiden Singles, "22 (Over Soon)" und "10 d E A T h b R E a s T" klingen zerfranst, gebrochen, sind sinistres Rauschen, Lärm. Seine Stimme hat Justin Vernon schon vorher oft mit Vocoder verfremdet, gedoppelt, geschliffen oder eben zerstückelt - aber noch nie so sehr wie auf diesen beiden Stücken.
Die Musikwelt wartet, scharrt ungeduldig, was da noch kommen wird.
Like... what?
Über das Artwork von "22, A Million" hat Künstler und Designer Eric Timothy Carlson in einem Interview ein paar Details verraten.
Die beiden erwähnten Songtitel sind außerdem, wie sie so dastehen, nicht völlig korrekt. Es ist die Variante, die aussprech- und tippbar ist. Aussprachehilfen zu den skurrilen Namen kursieren ebenfalls schon im Netz. Als wäre nicht schon genug Mystik um den scheuen Einzelgänger, als der Justin Vernon sich gibt, der er aber, wie er sagt, im Herzen gar nicht ist, verschlüsselt er sein neues Material nach ganz eigenen Codes. Alle zehn Stücke haben Namen bekommen, die sich aus Zahlen, Buchstaben und seltsamen Sonderzeichen zusammensetzen.
Jagjaguwar
Niemand kennt sich aus. Und alle sind noch gespannter.
Auf einer Pressekonferenz in seiner Heimatstadt Eau Claire hat Justin Vernon einige Details zu seinem neuen Album verraten. Diese war eine der wenigen Gelegenheiten, ihn über seine letzten Jahre, seinen Rückzug und seine Erfahrungen sprechen zu hören - Interviews hat er außer dem Guardian und der New York Times keine gegeben.
Jedem seine eigenen Geheimnisse
Eigentlich war klar, dass er aber auch in diesen Gesprächen nicht vollständig verraten wird, was seine Kombinationen aus Zahlenmystik, christlicher Symbolik und okkulten Zeichen zu bedeuten haben. Nach seinem Zusammenbruch wirkt die Musik von Bon Iver noch assoziativer: Direkte Geschichten aus seinem Leben hat er zwar noch nie - oder nur verschlüsselt - erzählt, aber jetzt ist die Bildersprache seiner Wortkreationen eine noch viel dichtere, intensivere. Die mehr andeutet, aber weniger verrät.
22 ist jedenfalls, wegen der für ihn faszinierenden Dualität, seine Lieblingszahl. "A Million" steht für den Rest der Welt, mit dem er versucht, durch seine Musik in Einklang zu kommen.
Wie klingt dieses dritte Album von Bon Iver?
Es sind zehn Soundskizzen, die noch elektronischer gearbeitet sind, beinah überelektrifiziert. Die mit der Idee des klassischen Popsongs brechen, collagenartig, eine neue Avantgarde.
Ungemütlich, ja aufgekratzt flüstern sie teilweise durch die Boxen - das jedenfalls ist der Eindruck nach den ersten beiden Nummern. Aber ganz lässt Justin Vernon das erarbeitete Bon-Iver-Kapital natürlich nicht zurück. Nach wie vor beeindruckend harmoniesüchtig sind es auch wieder gitarren- oder pianolastige, drückend schwere Folkballaden, die sich an die kreischend-donnernden Ausreißer des Albums schmiegen.
"22, A Million" zeigt alle Facetten von Bon Iver: die, die wir kannten, und die, die Justin Vernon zuvor selbst noch nicht erkannt hat. Dazu die spannenden Zeichen, die unerklärbaren, hinter denen sich ein Musiker versteckt, der nicht mehr zu viel preisgeben will. Er will keine Interviews mehr geben, nicht, weil er zu scheu oder zu misanthropisch ist. Nach dem Erlebten will er sein wahres Gesicht nur mehr den wichtigsten Menschen zeigen: Seiner Band, seinen Freunden und seiner Familie widmet Justin Vernon auch drei Seiten im Booklet des Albums.
Bon Iver ist mittlerweile eben auch kein Soloprojekt mehr, auch wenn das dem Bild des zurückgezogenen, skeptischen Musikers so gut entsprechen würde. Das Justin Vernon schon bewusst aufgebaut hat, dem er aber selbst immer wieder widerspricht. Im Booklet heißt es nämlich außerdem:
Faces Are For Friends.
Family Is Everything.
Friendship Is For Safekeeping.
Cameron Wittig & Crystal Quinn
Alle Infos zur kommenden US- und Europatour von Bon Iver gibt es hier.
Passend dazu hat sich Justin Vernon gerade in Berlin mit einigen anderen Musikern aus Bands wie The National, Woodkid und Poliça eingeschlossen, um gemeinsam zu jammen. Die Ergebnisse wurden im alten Berliner Funkhaus präsentiert.
Obwohl er in der Musik seinen Rückzugsort gesucht und nach vier Jahren wieder gefunden hat und eigentlich nur über diese mit der Öffentlichkeit kommunizieren will, schürt er durch seine bedeckte Haltung die Neugier auf seine Person, auf das Mysterium Bon Iver. Durch die unerklärte Sprache, die nur er selbst versteht, die ihn seine Geheimnisse behalten lassen.
Durch genau die er ein Gegenbild zu unserer socialmedia-, gossip-, und aufmerksamkeitsgeilen Gesellschaft entwirft.