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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

21. 9. 2016 - 16:42

Die Mauer in uns

Das Schicksal eines neunjährigen Kindes hat neulich ganz Bulgarien gerührt.

Der kleine Mustafa hat Leukämie und wurde von seinen Verwandten im Krankenhaus zurück gelassen. Mustafas Mutter ist 21 Jahre alt. Als er geboren wurde, war sie 12. Außer Mustafa hat sie noch drei Kinder. Sie wohnt getrennt von ihren Kindern mit einem neuen Partner. Keines von den vier Kindern wurde vom jeweiligen Vater anerkannt.

Sie wohnen alle bei der Oma. Da ihr euch möglicherweise über das zärtliche Alter von Mustafas Mutter wundert, muss man dazu sagen, dass die Oma 1979 geboren wurde. Die mehrköpfige Familie der Oma wohnt in zwei Zimmern. Ihr Alltag, den man in den Fernsehreportagen sieht, ähnelt dem eines afghanischen Bergdorfes. Er ist schmutzig, arm und aussichtslos. Deshalb hat die Familie den kleinen Mustafa seinem Schicksal überlassen.

Mustafa ist schwer ansprechbar, er spricht eigentlich kein Bulgarisch. Das ist besonders merkwürdig, da das Kind ein Jahr in die Schule gegangen ist, wo man ja die bulgarische Sprache unterrichtet. Was Mustafa im einen Jahr, als er zur Schule gegangen ist, gelernt hat, bleibt einen Rätsel. Warum sich die Schule um die Sozialisierung des Kindes nicht bemüht habe, ist auch unklar.

Mauer

CC-BY-2.0 / Joe Shoe / flickr.com/dittmeyer

Mustafa hat Glück, die Ärzte im Krankenhaus gehen mit seinem Fall in die Öffentlichkeit. Das Kind wurde in Sommerkleidern im Spital gelassen, doch der Herbst kommt und die Ärzte rufen die Menschen nach Kleiderspenden auf. Für einen Tag wird Mustafa mit Unmengen von Kleider und Spielzeug aus ganz Bulgarien überschüttet. Das Krankenhaus muss die Menschen bitten, mit dem Kleiderspenden aufzuhören, da dafür der Platz fehlt. Viele Leute besuchen Mustafa im Spital um ihm Mut zu geben. Eine Gruppe von Medizinstudenten gibt ihm ihr Kleingeld. Sie sammeln eine Summe von 20 Leva (10 Euro). Mustafa hat noch nie in seinem Leben so viel Geld auf einmal gesehen.

Da der Fall medial für Aufregung gesorgt hat, haben sich alle bulgarische Institutionen auf einmal gerührt – Sozialministerium, Agentur zur Kindesbeschützung, Staatsanwaltschaft. Man fragt sich natürlich, wo sie vorher waren.

Mit Akzent

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Mustafas Eltern mögen verantwortungslos sein (man fragt sich, wie viel Verantwortung für ihr Baby kann ein 12-Jähriges Kind übernehmen?), aber wo waren diese ganzen Institutionen bis jetzt? Bulgarien ist die Außengrenze der EU. An ihrer südlichen Grenze wird weiter um viel Geld an einer drei Meter hohen Mauer gebaut, um die illegale Migration zu stoppen.

In der Zwischenzeit denkt niemand an die Minderheiten, die bereits seit Jahrhunderten hier leben, vor den Problemen der Roma verschließt die Gesellschaft ihre Augen und baut eine noch höhere, unsichtbare Mauer um sie herum. Wie gesagt, das Haus von Mustafa und seiner Familie ähnelt dem einer Familie in Afghanistan. Wie es wohl ist, in deinem Geburtsland wie ein Flüchtling zu leben?