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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

15. 9. 2016 - 15:58

Von Maulwürfen zu Kartografie

Der steirische herbst 2016 wird in einem Maulwurfshügel (Kunst!) beginnen, ferne Länder näher bringen (Diskurs!) und fragen, was mit Europa geht (alles!). Eine Vorschau.

steirischer herbst

23.9. bis 16.10. 2016, Graz, Leibnitz, Leutschach, Allerheiligen bei Wildon

Vergesst die Einhorn-Plüschkostüme, bald kommt der Maulwurf! Der Herbst in Graz ist keine Zeit, um sich zuhause zu vergraben. Nach kurzer Ferienzeit geht der Festivalreigen weiter, der einen in dieser Stadt unterhält und klüger macht. Der steirische herbst ist - 1968 gegründet - wohl das älteste Avantgarde-Festival der Welt. Neue Kunst wird gezeigt; es gibt Performances und Ausstellungen an den Kunstorten der Stadt sowie jede Menge Diskurs und Party - diesmal mit sehr vielen Konzerten von MusikerInnen aus aller Welt im "club panamur". Aus aller Welt? Das wird sich die geschätzte Musikkennerin Katharina Seidler genau anschauen und ihren Ausblick samt Empfehlungen bald teilen.

Im Orpheum, wo das Festivals abends seinen Hauptort haben und der "club panamur" zu finden sein wird, wachsen die von GrazerInnen im Vorfeld abgegebenen Zimmerpflanzen zu einem "Garden State" des Kollektivs Mamaza zusammen. Die Inspiration dazu kam von der anarchistischen Kolonie Libertalia (Libertatia), die im 17. Jahrhundert von befreiten Sklavinnen und Sklaven nahe Madagaskar gegründet worden sein soll. Schon wieder will nachgeforscht und verortet werden!

Garden State von Fabrice Mazliah / Mamaza im Grazer Orpheum

Fabrice Mazliah / Mamaza

Ums kulturelle Verorten dreht sich der steirische herbst diesmal ebenso. Eine "Arrival Zone" wird sich tagsüber zwischen dem Orpheum, Kunstverein Rotor und dem Volksgarten-Pavillon auftun, ein "Geflecht von Kunsträumen und Veranstaltungsorten" im "Annenviertel", angeblich Österreichs derzeit am schnellsten wachsenden Ballungsraum. Das britische Duo Morag Myerscough und Luke Morgan haben die Markierungen für diese Arrival Zone geschaffen: Es ist ein Zeichensystem, das mit hundert GrazerInnen entwickelt wurde und auf Fahnen zu sehen sein wird.

"Open Wide"-Bildsprache in der Arrival Zone von Morag Myerscough und Luke Morgan

Morag Myerscough & Luke Morgan

"Open Wide"-Bildsprache in der Arrival Zone von Morag Myerscough und Luke Morgan

Zuallererst geht es jedoch in eine sehr spezielle Unterwelt. Eröffnet wird der steirische herbst dieses Jahr in einem Maulwurfshügel, den der französische Regisseur Philippe Quesne baut. Das Kampnagel nennt Quesne einen Bildtheatermagier. "Die Nacht der Maulwürfe - Welcome to Caveland!" wird zwei Mal begangen: Am 23. und am 24. September in der Grazer Helmut-List-Halle.

Die Nacht der Maulwürfe von Philippe Quesne beim steirischen herbst

Martin Argyroglo

"Hier durchlebt eine Gemeinschaft von gigantischen Maulwürfen die Zyklen des Lebens: Geburt und Tod, Fressen und Gefressenwerden, Erschaffen und Zerstören. Quesnes Geschöpfe schlagen sich blind, aber beharrlich durch ihren Alltag, rollen als Nachfahren von Sisyphos sinnlos Gesteinsbrocken hin und her und präsentieren sich als perfekte Metapher für die Menschen und ihr Tun", verspricht hierzu das Programmheft.

Ein Mensch trägt das Plüschkostüm eines Maulwurfs und steht an einer Aussichtsplattform und blickt auf das Meer

Martin Argyroglo

Hier kommt Philippe Quesnes Maulwurf!

Kokett?

Einen Punkt statt des Ausrufezeichens setzt der steirische herbst hinter Angela Merkels bereits historische Aussage "Wir schaffen das" für sein heuriges Leitmotiv. "Wir schaffen das. Über die Verschiebung kultureller Kartografien" ist das herbst-Motto. Kokettiert das Kunstfestival mit Solidarität?

Veronica Kaup-Hasler, die Intendantin des herbst, hat sich in ihren Eröffnungsreden seit Jahren klar positioniert und geäußert. Vielleicht würde man bei der nächsten Eröffnung die Carta der Genfer Flüchtlingskonvention zusammen singen, sagte Kaup-Hasler 2014 und hielt damals fest: Europa schaue "kuhäugig, wie Flüchtlinge angeschwemmt würden". Österreich, Angola, "Chinafrika" - Der herbst unternimmt diesmal den Versuch, das alte Europa und sein Verhältnis zum Rest der Welt zu erkunden.

Eine Bühnenszene des Stücks "Empire" von Milo Rau: Zwei Männer und eine Frau sitzen in einer Küchenkulisse, hinter ihnen auf der Leinwand eine Videoeinspielung.

Marc Stephan

"Empire"

"Empire"

Mehr Theater auf FM4:

"Das kriecht so richtig hinein", sagt ein Freund nach der Uraufführung von Milo Raus "Empire" und ist begeistert, nicht zuletzt von den SchauspielerInnen und den Texten, aus denen dieses Stück besteht. Es ist der dritte Teil der Europa-Triologie des Schweizer Regisseurs, Theaterautors und Journalisten Rau und seinem International Institute of Political Murder.

"Was heißt Flucht? Was Heimat? Wie wird das Gesicht des neuen Europas aussehen?" Darum geht es in "Empire", das Milo Rau als eine Melodie, gespielt von vier SchauspielerInnen und fünf Technikern, beschreibt. Die SchauspielerInnen stammen aus Rumänien, Griechenland, Kurdistan und Syrien und all das, was sie in ihren Monologen preisgeben, kommt aus ihren Leben. Nach der Doppelpremiere in Zürich und Berlin hat Empire seine Erstaufführung in Österreich am 14. Oktober.

"Die Schuldfabrik"

"Die Flüchtlingsbewegungen unserer Zeit haben sehr stark etwas mit Europa zu tun. Nicht nur, dass Europa jetzt damit konfrontiert ist, sondern auch Europa und die westliche Welt haben ihren Anteil durch die Zurichtung, durch die Kolonialpolitik vergangener Zeiten", sagt die herbst-Intendantin Veronica Kaup-Hasler. Der deutsche Künstler Julian Hetzel hat sich zu diesem Themenkomplex die performative Installation "Schuldfabrik" ausgedacht. In den Räumen einer ehemaligen Hospizstiftung werden die moralische und die ökonomische Schuld sowie deren Zusammenhänge verhandelt.

Ein Mann mit Schutzmaske über Mund und Nase steht vor einem Pottich und hält unbestimmtes Material in den Händen und über einen Sieb

Julian Hetzel

Julian Hetzel hat menschliches Fett von Fettabsaugungen für sein Projekt aufgestellt
Seife aus Menschenfett

Julian Hetzel

"Das ist tatsächlich so etwas wie ein Fabriksbesuch. Die ZuschauerInnen sind eingeladen, durch einen Parcours zu gehen und in jedem der Räume einen unterschiedlichen Aspekt zu Schuld und Schulden zu entdecken", sagt Julian Hetzel. "Für mich war die Frage, wie kann ich Schuld als Rohstoff begreifen? Inwieweit kann Schuld eine Ressource sein, die man nutzen kann? Wie kann man sie auf den Tisch legen und verwerten, sie kapitalisieren?" Julian Hetzel hat nach einem Material gesucht, "in dem die Schuld drinsitzt": Menschliches Körperfett.

Mit einem Team von Anwälten und Beratern hat er nach einem Weg gesucht, legal an Körperfett zu kommen. In einem Concept Store der Schuldfabrik wird es 2016 Seifen zu kaufen geben, mit denen man sich normal waschen kann. Für jede verkaufte Seife wird eine andere Seife in eine Community in Malawi geschickt. (24.9. bis 2.10., Volksgartenstraße 4-6)

Die Konferenz

Die irrsten Dinge über Realitäten andernorts erfährt man bei der herbst-Konferenz. Es gibt Performances, Diskussionen und Vorträge. Die herbst-Konferenz mit dem Titel "Welcome to the Former West" findet bei freiem Eintritt statt und vereint Theorien, Utopien und aktuelle Perspektiven auf und zu Europa. Zwei Tage hindurch setzen sich Forschende, KünstlerInnen und Neugierige im Grazer Orpheum zusammen. Im Programm übersieht man sie leider allzu leicht - zwei Tage, wer will sich soviel Zeit nehmen? Doch ein Besuch der herbst-Konferenz hat sich in den letzten Jahren jedes Mal gelohnt.

Jochen Becker / Daniel Kötter / metroZones: 
Chinafrika. Under Construction

Jochen Becker

Jochen Becker / Daniel Kötter / metroZones: Chinafrika. Under Construction

Die Schwerpunkte der Konferenz reichen bis "Chinafrika", also den Verbindungen zwischen dem chinesischen Staat und dem afrikanischen Kontinent. Welche Rolle Europa bei diesen Deals und Beziehungen spielt, erkunden die Deutschen Jochen Becker und Daniel Kötter in einem mehrjährigen Projekt; die Ausstellung "Chinafrika. Under Construction" im Haus der Architektur zeigt die bisherigen Recherchen (Eröffnung: 7.10., 18.00).

Bargeld

In Wien gastiert Blixa Bargeld zusammen mit Teho Teardo am 19.9. im Stadtsaal.

Andere wären reich, er sei legendär, äußerte sich Blixa Bargeld vor einigen Jahren. Ein Blick ins FM4-Archiv muss auch sein: Die von Fans gebastelten Blixa-Bargeld-Puppen sind auch legendär. Dieses Jahr hat der Sänger der Einstürzenden Neubauten und Künstler Bargeld einen Film über den Musiker, Komponisten und Aktivisten Dror Feiler gemacht. Mit einer "Fast-Solo-Performance" ist Blixa Bargeld Teil des musikprotokolls (6. Oktober, 21.30, Dom im Berg).

Blixa Bargeld auf der Bühne

David Višnjić

Und dann in die Südsteiermark

Der steirische herbst hat aufgrund seiner Förderstruktur auch den verstärkten Auftrag, im ganzen Bundesland stattzufinden. Diesmal tut sich Programmpunkte nicht nur in Graz, sondern auch in Leibnitz, Leutschach und Allerheiligen bei Wildon auf. Das steirische Land besingen Natalie Ofenböck und der Nino aus Wien auf ihrem "Das Grüne Album", ebenfalls ein Produkt des steirischen herbst, das bei einem Heurigen (30.9., Allerheiligen bei Wildon) präsentiert wird. Und im Orpheum in Graz kann man in eine queere Buschenschank, bei der "Murwirtin" einkehren und Toast Hawaii essen, der nicht aus Hawaii kommt.