Erstellt am: 8. 9. 2016 - 19:07 Uhr
Die Toten
Der Schweizer Autor Christian Kracht ist mit seinem ersten Roman „Faserland“ gleich fix in der Schublade „Popliteratur“ verstaut worden. Aber das ist lange her, wir reden von den fetten 90er Jahren, als ästhetische Verfeinerung und popkultureller Ennui noch ausgereicht haben, um der deutschsprachigen Literatur einen Tritt in den Hintern zu verpassen. Während ein großer Teil der damaligen Popliteraten im Journalismus oder in der Selbstbespiegelung aufgegangen ist, hat Christian Kracht lange Reisen unternommen und mit wechselnden Wohnsitzen zwischen Katmandu, Nepal und Buenos Aires auch seine Literatur umgekrempelt. Statt offensichtlicher Pop-Zeitgenossenschaft hat er Reiseberichte geschrieben und in pseudo-historischen Romanen wie „Imperium“ eine ganz eigene Welt zwischen Retrovision und Science (non)Fiction entwickelt.
Kiepenheuer & Witsch
Auch in seinem neuen Roman „Die Toten“ geht die Reise weit in die Vergangenheit und in das halbimaginäre Berlin, Tokio und Los Angeles der frühen Dreißigerjahre. In Berlin bekommt der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli vom UFA-Direktor persönlich das Angebot einen Film in Japan zu drehen. Mit japanischem Geld und deutschen Filmstars soll die Übermacht von Hollywood, die sich damals mit Ton- und Farbfilm schon abzeichnete, gebrochen werden. Es wird von der Errichtung einer „zelluloiden Achse“ zwischen Tokio und Berlin fantasiert und eventuell übernimmt Heinz Rühmann auch eine Rolle.
Emil Nägeli ist ein verkrachter Filmkünstler. Sein sperriges Hauptwerk "Die Windmühle" - natürlich stumm, natürlich schwarz weiß - hat ihm einen Eintrag in der noch kurzen Geschichte der Schweizer Filmkunst eingebracht und verhilft ihm jetzt zu diesem vielversprechenden Auftrag der UFA. Er ahnt nicht, dass er selbst nur der Spielball in einer weitaus größeren Sache ist, die von einem japanischen Filmkultur-Beamten namens Mashiko Amakasu ausgeheckt wurde. Dieser Amakasu ist die zweite Hauptfigur von „Die Toten“. Seine Biografie, die zwischen überbegabten Wunderkind und Prügelinternat stattfindet, wird mit dem eher kläglichen Dasein des stets Nägel kauenden Schweizer Filmkünstlers Nägeli (sic) virtuos gegengeschnitten.
Frauke Finsterwalder 2016
Situationen und Figuren sind teilweise frei erfunden und teilweise historisch verbrieft. Charlie Chaplin etwa ist tatsächlich in Japan gewesen, im Roman entkommt er nur knapp einem politischen Anschlag. Der Filmtheoretiker und legendäre Feuilletonist Siegfried Kracauer bringt den fiktiven Nägeli auf dumme Ideen und Heinz Rühmann, UFA-Star und Nazi-Opportunist wird dann doch nicht der „neue Chaplin“ in Hollywood, auch das entspricht ja durchaus der historischen Wahrheit.
Christian Kracht setzt, ähnlich wie in seinem letzten Buch „Imperium“, sprachlich auf eine merkwürdig antiquierte, an Thomas Mann gemahnende Sprache. Ob das als Parodie oder Affirmation gemeint ist, bleibt wie so vieles bei Kracht offen. Man sollte sich also damit anfreunden, dass ein Gehsteig bei Kracht Trottoir heißt und „ein bauchiges Glas Mineralwasser still vor sich hin opalisiert“. Diesen Stil kann man affektiert und unfreiwillig komisch finden oder aber man genießt das Spiel mit dem sprachlichen Anachronismus. Für lange, verschachtelte Sätze sollte man jedenfalls Zeit haben.
Frauke Finsterwalder 2016
Dass die gedrechselte Sprachakrobatik und die bizarre Story den Leser nach den ersten zwei Dritteln des Buches ein wenig ratlos zurücklässt, ist schnell vergessen, wenn gegen Ende eine klassische „Kracht-Wendung“ eintritt. Die Figuren des Romans, die wie Schlafwandler durch das historische Dreißigerjahre-Setting taumeln, geben sich an Ende völlig auf. Sie verschmelzen mit den Weiten des Pazifiks, oder verschwinden buchstäblich in Hollywood. Es ist die Suche nach den existentiellen, gar metaphysischen Erfahrungen in kläglichen Zeiten, die Christian Krachts Literatur antreibt. „Die Toten“ ist trotz des grimmigen Titels durchaus leichtfüßig geraten, es gibt sogar einiges zu lachen. Den gleichnamigen fiktiven Japan-Film des fiktiven Schweizer Kunstfilmers Emil Nägeli würde man nach der Lektüre gerne im Filmmuseum sehen.