Erstellt am: 8. 9. 2016 - 15:06 Uhr
Harlow normal
Er könne nicht mehr sagen, schreibt der in Florida lebende britische Freund, ob die USA oder das UK heutzutage "more bizarre and right-wing" seien. Dabei hatte ich ihn bloß gefragt, ob's ihm eh gut geht dort drüben.
Antwort auf seine Gegenfrage hätte ich allerdings auch keine. Schließlich gewöhnt man sich so schnell an das Bizarre, dass man es gar nicht mehr bemerkt.
"Build a wall", sagt The Donald, "und lasst die Mexikaner dafür zahlen!"
"Build a wall", sagt ein britischer Staatssekretär des Innenministeriums mit dem unglaublichen Namen Robert Goodwill, und die Daily Mail jubelt.
Gezahlt wird dafür mit 1,9 Millionen Pfund britischer Gelder. Gebaut wird die Mauer aber in Frankreich, weit jenseits der britischen Grenze.
AFP PHOTO / SAKIS MITROLIDIS
Ich war unlängst eine Weile auf dem Kontinent – rein privat, man könnte Urlaub dazu sagen – und bin dabei wieder einmal an dem immer länger, höher und dichter werdenden weißen Zaun vorbei gefahren.
Durch seine Gitter sieht man immer noch den sogenannten Dschungel mit seinen mittlerweile 9.000 Bewohner_innen, denen nach ihrer langen, unwillkommenen Reise westwärts durch den Kontinent der Boden zum Weiterziehen ausgegangen ist.
Hunderte, vielleicht Tausende von ihnen sind Minderjährige, die bereits Verwandte in Großbritannien und somit ein Menschenrecht auf Familienvereinigung hätten, aber der Staat hält sie sich erfolgreich vom Leib, mit Hilfe der Justiz und allen humanitären Initiativen zum Trotz.
Die Abschreckung der Verfolgten zugunsten des Wohlgefühls der Paranoiden ist die Regierung einiges an Menschenleben wert.
Man hört Geschichten von Menschen, die die Autobahn blockieren, damit ihre Freunde auf stehende Lastwägen aufspringen können. Und man sieht um jede Tages- und Nachtzeit Polizeistreifen. Erst vorvorgestern haben französische Lastwagenfahrer die A16 nach Calais blockiert. Sie bliesen ihren Protest erst ab, als man ihnen noch mehr Polizeistreifen versprach.
Die Mauer, deren Bau nun gestern angekündigt wurde, soll an das Ende des Zaunes angestückelt werden, sozusagen als Verlängerung der derzeitigen Befestigungsanlage.
Ab wann, möchte man fragen, reichen Zäune und Mauern entlang dieser Autobahn so weit bis nach Frankreich hinein, dass es keinen Sinn mehr machen würde, auf einen Lastwagen aufzuspringen? Wie viele Meilen Korridor braucht Großbritannien, um sich vom Eindringen des Rests der Welt fernzuhalten? Und ab wievielen Meilen beginnt man sich dafür zu schämen?
In meiner Lokalzeitung träumt die Bürgermeisterin von Calais von einer neuen Metro zwischen Kent und der Provinz Pas-de-Calais, sobald demnächst das Monopol des Eurostar für die Unterquerung des Kanals ausgelaufen sein wird. Die Durchfahrt soll bloß 35 Minuten dauern. Und wie lange der Check-in?
Vorgestern hörte ich in den Radionachrichten ein paar Voxpops von Fischern, die sich eine großartige Zukunft nach dem Brexit ausmalen (nur wir dürfen in britischen Wassern fischen, und zwar so viel wir wollen, und alle anderen sollen draußen bleiben, werden uns aber unsere Ware abkaufen, weil sie sie brauchen).
Einer von ihnen fasste das, was er sich vom Brexit erwartet, in vier Wörtern handlich zusammen: "Kick out the foreigners."
In dem Großbritannien, in das ich einst gezogen bin, hätte das zumindest ein bisschen höflichen Widerspruch seitens des Voxpop-Sammlers oder einen Kommentar der Moderatorin der Sendung geerntet. Oder es wäre von vornherein rausgeschnitten worden.
Heutzutage geht ein Wunsch zum Treten von Ausländern einfach als ganz normale, legitime Volksmeinung durch. Da braucht man sich dann kaum zu wundern, wenn es Leute gibt, die solche akzeptablen Äußerungen auch wörtlich nehmen.
Am 27. August wurde in der Stadt Harlow in Essex Arek Jozwik auf offener Straße erschlagen. Er hatte im Stadtzentrum eine Pizza gegessen und war von einer Gruppe sechs einheimischer Teenager konfrontiert und schließlich attackiert worden, weil sie gehört hatten, dass er mit Freunden polnisch sprach.
Darren Hayman
Nachdem sogar das xenophobe Brexit-Kampfblatt The Sun die Story auf seine Titelseite hievte, hatte ich ja optimistisch angenommen, das erste Todesopfer dieser unerträglichen Eskalation des Fremdenhasses könnte ein bisschen Seelensuche im Land auslösen. Aber die Geschichte verschwand noch schneller aus den Schlagzeilen als der Tod der Abgeordneten Jo Cox vor dem Referendum.
Darren Hayman
Immerhin, in Harlow nahmen am Sonntag ein paar Hundert Leute an einer Mahnwache für Arek Jozwik teil. Und währenddessen wurden in derselben Stadt zwei weitere Polen attackiert. Der eine erlitt Schnittwunden im Gesicht, der andere eine gebrochene Nase. Die Polizei meldete, auch hierbei habe es sich um ein "hate crime" gehandelt, zwischen den beiden Vorfällen bestehe aber kein Zusammenhang.
Darren Hayman
Das Interessante an Harlow ist nicht nur, dass es im zentralen Brexit-Gebiet Essex liegt, einem County nördlich der Themse, jenseits der Metropole London, das seine Industrie (vor allem Ford in Dagenham) verloren hat, wofür man dann gern dem Ausländer an und für sich die Schuld gibt.
Darren Hayman
Harlow ist zudem noch der spezielle Fall einer "new town", die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Boden eines unbedeutenden kleinen Dörfchens geplant und gebaut wurde, um Familien aus den zerbombten Slums des Londoner East End ein neues Leben zu ermöglichen.
Darren Hayman
In anderen Worten: Alle, die in Harlow leben, sind auf ihre Art Einwander_innen oder deren direkte Nachkommen. Sie leben im architektonischen Erbe eines seit den Achtzigerjahren, zugunsten einer individualisierten, privatisierten Gesellschaft systematisch zurechtgestutzten, paternalistischen Wohlfahrtsstaates.
Darren Hayman
Mein Freund Darren Hayman, der Wahl-Londoner, dessen in Essex wohnende Familie geschlossen für den Brexit stimmte, hat 2009 eine "folk opera" namens "Pram Town" über Harlow geschrieben (er wuchs selbst nicht dort, aber unweit in Brentford auf).
"How can you live anywhere else?", war der sarkastische Refrain des melancholischen Titellieds.
Man kann sich die Platte hier via Bandcamp anhören und natürlich auch kaufen.
Darren Hayman
Ich hab sie mir beim Schreiben dieses Blogs aufgelegt und festgestellt: Dieses 2009 sehr relevante Album, das den Bewohner_innen dieser umglamourösen Trabantenstadt Geschichten und Gesichter gab, ließe sich sieben Jahre später so nicht mehr veröffentlichen.
Die Geschichte des Schweigemarschs vom letzten Sonntag mit den polnischen Fahnen vorneweg ließe sich nicht aussparen. Und auch nicht die alltägliche Gewalt rundherum.
Darrens unschuldige Vignetten über einfache Leute mit dem simplen Verlangen nach "a little room to grow" klingen plötzlich, als kämen sie aus einer anderen, harmloseren Welt.
Eine Welt, in die das offizielle Britannien so schnell wie möglich zurückkehren will, selbst wenn dies Übungen des Vergessens erfordern sollte, die einem alten Ösi wie mir nur zu bekannt vorkommen.
Wie jetzt klar wird, war der Anstieg an xenophoben und rassistischen Übergriffen nach dem Referendum nicht nur ein kurzes enthusiastisches Aufwallen düsterer Emotionen. Der mit 58% gegenüber dem letzten Jahr höchste Zuwachs an gemeldeten Hate Crimes wurde sechs Wochen nach der Abstimmung erreicht, ist seither wieder abgeflacht und liegt derzeit "nur" bei 16 Prozent.
Das Home Office und das National Police Chiefs Council haben sich bereits mit dieser neuen Normalität abgefunden und beschlossen, ab jetzt keine wöchentlichen Daten mehr zu sammeln.
Was nicht gezählt wird, gibt’s nicht. Dann ist ja alles gut.