Erstellt am: 7. 9. 2016 - 14:58 Uhr
Blaue Augen
Es war sehr früh am Sonntagmorgen und die Stadt war leer. Ich ging die menschenleere Straße entlang. Von Weitem hörte man ein Fahrrad näher kommen. Die Kette klapperte und die Klingel tönte leise. Das Fahrrad kam auf mich zu. Es fuhr nicht am Radweg, sondern mitten auf dem Gehsteig. Wer war wohl diese Person, die so dreist gegen die Regeln verstieß? Es war eine junge Frau mit unglaublich blauen Augen. Es waren die Augen von Toni.
Wir waren von der Vierten bis zur Siebenten gemeinsam in der Klasse. Für mich war sie das schönste Mädchen der Welt. Sie schaute auf das Leben mit einem ständigen, mitleidigen Lächeln. Ich dachte mir, dass ihre Augen die dunkelsten Ecken der menschlichen Seele beleuchten können. So nannte ich sie auch insgeheim: "Toni, die in mich hineinschauen kann."
Toni war eine Rebellin. Mit 13 rauchte sie und schwänzte den Unterricht. Ihr Vater war Drummer in irgendeiner Band, zumindest erzählte sie uns das. Vielleicht war er auch ein gewöhlicher Säufer. Ich habe ihn nie gesehen. Egal, wie sehr ich sie verliebt war, sie bemerkte mich überhaupt nicht. Sie war ein Metalfan. Um von ihr gesehen zu werden, kaufte ich mir ein "Manowar"-T-Shirt. Ich lernte sogar die albernen Lyrics von Manowar auswendig. Einmal versuchte ich in der Pause, mit ihr über die Orcs und Krieger zu reden, die in den Texten ihrer Lieblingsband immer vorkamen. Sie schaute mich mit ihren blauen Augen an und sagte: "Misch dich nicht in Sachen ein, die du nicht verstehst." Anscheinend kannte sie sich mit Orcs aus und ich nicht.
flickr.com/credit_00 / CC BY-ND 2.0
In der siebente Klasse wurde Toni von der Schule geschmissen. Sie kam betrunken zur Chemieunterricht und fing an, die Reagenzgläser auf den Boden zu werfen. Am Ende kotzte sie auf die Tafel mit dem Periodensystem. Sie wurde in eine andere Schule versetzt, die ich nicht kannte und ich selbst fuhr bald danach nach Deutschland.
Vor ungefähr fünf Jahren habe ich sie wieder gesehen. Ich saß auf einer Parkbank im Zentrum von Sofia. Toni war unterwegs mit dem "Langen" und mit Sascho, dem Indianer – beides bekannte Sofioter Heroinsüchtige. Alle drei schnorrten Geld von den Omas im Park für ihre nächste Dosis. Sie sahen tragisch und komisch aus – der Lange, dünn wie einen Stock, der Indianer, klein wie ein Eichhörnchen. Und Toni mittendrin. Auf ihrem Gesicht leuchteten ihre blauen Augen. Sie sah mich an. Sie kam auf mich zu. Ich dachte, sie hätte mich erkannt.
"Alter, gib mir bitte zwei Lewa, sonst sterbe ich bald", sagte sie. Sie sah wie jemand aus, der in einer Waschmaschinenschleuder oder in einer Fleischmühle lebt. Die Löcher in ihren Venen halfen bei dieser Vorstellung. Nur ihre Augen waren die gleichen. Sie schaute, aber nicht in meine Seele hinein. Sie schaute durch mich hindurch. Sie hatte mich nicht erkannt. Ich war nur ein gutes Schorrobjekt – besser als die Omas rundherum. Ich griff in meine Tasche und gab ihr eine Banknote. "Du bist ein cooler Typ, Alter", sagte sie.
commons.wikimedia.org/wiki/User:MrPanyGoff / CC BY-SA 3.0
Nach einigen Monaten traf ich den Langen auf einer Party. Ich versuchte, ihn nach Toni zu fragen, er aber redete nur über die Anarchie und den freien Willen, der die Welt regieren solle. Ich glaube, er hörte meine Frage gar nicht. Den Indianer habe ich auch wiedergesehen. Er stand bei einer Straßenbahnstation und spielte eine psychedelische Melodie auf seiner Blockflöte. Kurz danach wurde er nach einer Überdosis tot am Klo der Uni Sofia gefunden.
Und diesen Sonntagmorgen fuhr Toni – mit ihren blauen Augen auf ihrem Rad mitten auf dem Gehsteig und kam auf mich zu. Eine ganze Horde von Orcs und Kriegern rannte durch meinen Kopf. Ich verlor die Orientierung. Anstatt sie aufzuhalten, sie zu umarmen, sie zu fragen, was zum Teufel sie in Wien machte, wurde ich von diesen Erinnerungen überwältigt. Das Rad fuhr weiter und bog in eine Seitenstraße ein. Kurz danach hörte man die Kette klappern. Ich rannte los und schaute um die Ecke. Die Straße war leer.