Erstellt am: 4. 9. 2016 - 16:40 Uhr
Anrufung der Toten
Im Juli 2015 stürzte Nick Caves 15-jähriger Sohn Arthur von einem Kliff bei Ovingdean nahe Brighton zu Tode. In seinem ersten seither veröffentlichten Stück verarbeitet Cave den Unfalltod und seinen Umgang damit überraschend explizit, gleichzeitig skizziert er ein weiteres, allgemeineres Bild, das auch ins Transzendentale weist.
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- Auch der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar macht sich in der Presse am Sonntag zum jeweils selben Song seine Gedanken.
Gleich die ersten Zeilen von "Jesus Alone" lauten: "You fell from the sky, crash landed in a field near the river Ardur". Ardur ist ein Fluss unweit Brightons, überdeutlich schwingt die lautliche Nähe zum Namen des Sohnes mit.
Es brummt und summt bitter in "Jesus Alone". Der Song ist ein langes Dröhnen und Zittern, dazu ein paar Töne aus dem Klavier, behutsame, gedämpfte Percussions, Warren Ellis dirigiert die Streicher. Der Refrain des Stücks ist eine einzige, schlichte, betont direkte Zeile: "With My Voice I Am Calling You". Wieder und wieder wiederholt sie Cave. Gegen Ende des Songs meint man, hören zu können, wie er die Tränen unterdrückt.
In dieser knappen Zeile spricht Cave auch nahezu das einzige Mal in "Jesus Alone" direkt von sich selbst bzw. dem Ich des Erzählers: "my voice". Klar kann man hier den trauernden Vater heraushören, der sein totes Kind anruft. Gleichzeitig ist die Zeile universell, nicht zu Ende erklärt. Cave will hier keine vertrackte Bibellyrik heraufbeschwören, diese Zeile steht nackt und prominent, transportiert ohne Verschleierung Gefühl.
Der Rest des Songs erzählt von "yous", von anderen Figuren. In rätselhafter, bildreicher Poesie, die wiederum dem schlanken Refrain gegenübersteht. Wir hören von einem jungen Mann, der erwacht, überströmt von Blut, das nicht sein eigenes ist. Von einer Frau in einem gelben Kleid, umschwirrt von einem Schwarm von Kolibris. Von einem Drogensüchtigen, der in einem Hotelzimmer in Tijuana auf seinem Rücken liegt.
All diese Figuren werden mit einem "you're" – du bist – adressiert. Nick Cave beklagt weniger den Verlust, den er, der hinterbliebene Vater, zu ertragen hat, vielmehr betrauert er die möglichen Leben, die sein Sohn nicht hat leben dürfen.
In einer Zeile hören wir von einem "African doctor harvesting tear ducts": Spielt Cave hier auch auf sich selbst und seine Zweifel an, auf den Künstler, der mit seiner Trauerarbeit eventuell Tränendrüsen anzapft? Der Song steigert sich dabei nahezu unmerklich, ohne Interesse an Pomp. Es gibt keinen erlösenden Tusch, keinen triumphalen Gefühlsbombast. Keine Lösung, keine Auflösung, keine Reinigung.