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Christian Pausch

Irrsinn, Island, Ingwer.

3. 9. 2016 - 16:39

"Das silberne Hochzeit - Gefühl"

Im Interview erzählt Tocotronic-Frontman Dirk von Lowtzow von 21 Jahren Bandgeschichte, von Interpretationen der eigenen Musik und vom Einsatz für die Flüchtlingsbewegung.

FM4 Festivalradio

Dirk von Lowtzow über die Liebe zu den Tocotronic-Bandmitgliedern und zu den Fans und über den unermüdlichen Einsatz für Flüchtlinge. Das ganze Gespräch gibt es am Sonntag, den 4. September, ab 15 Uhr im FM4 Festivalradio zu hören und im Anschluss für sieben Tage im FM4 Player.

Ende Juli, beim Out Of The Woods Festival in Wiesen, habe ich Dirk von Lowtzow zum Interview getroffen. Für das Frage-Antwort-Spiel, das bei anderen Bands und Künstler_innen oft nur wenige Minuten dauert, haben wir uns beide sehr viel Zeit gelassen und so ist ein sehr tiefgehendes Gespräch entstanden, das noch lange nachdem das Mikrofon ausgeschaltet war, weitergeführt wurde.

Ein Großteil ist aber digital eingefangen worden und so gibt es das Interview am Sonntag, den 4. September, im FM4 Festivalradio von 15 bis 16 Uhr zu hören. Ein Teil des Gesprächs wurde hier transkribiert, für die, die lieber lesen, als hören. Viel Vergnügen.

tocotronic

Christian Pausch

Das obligatorische Nach-Dem-Interview-Foto.

Jetzt gibt es euch schon 21 Jahre, "Digital ist besser" ist 1995 erschienen, elf Alben seither, gab's irgendwann diesen Moment, wo ihr euch dachtet: jetzt ist genug, oder jetzt müssen wir die Band auflösen?

Dirk von Lowtzow: Das ist schwer zu sagen, also diese Zweifel und dieses Gefühl oder die Fragestellung, ob es sich lohnt weiter zu machen, und ob das sinnvoll wäre für uns, aber auch für alle Hörerinnen und Hörer - die sollte man sich eigentlich immer stellen und die haben wir uns seit dem ersten Album, oder sogar noch vor dem ersten Album gestellt. Ist es überhaupt sinnvoll, ein Album zu machen oder eine Karriere als Musiker einzuschlagen? Das find ich ganz ganz wichtig, dass man das beibehält und immer hinterfragt. Das ist das Gefühl, dass wir versucht haben mit dem Song "Im Zweifel für den Zweifel"zu umschreiben. So ein kritisches Hinterfragen der eigenen Position, das ist enorm wichtig für den kreativen Prozess.

Und deshalb würd ich das schon bejahen, aber es gab jetzt keinen speziellen Moment, wo ich das Gefühl hatte, hier ist es ganz stark auf der Kippe und so. Ganz einfach, weil unsere Freundschaft und unsere gegenseitige Zuneigung - ja eigentlich ist es auch eine Form von Liebe - weil die immer so im Vordergrund stand. Wenn das funktioniert und wenn man das Gefühl hat, wir verstehen uns, vor allem auf einer menschlichen Ebene, dann ist das Musikalische und was da kommt, dann kann man das alles wuppen, dann kann man das alles hinkriegen. Und deshalb haben wir kontinuierlich immer weiter gemacht.

Das ist ja auch ein kleines Wunder, wenn man in so einer Liebes-, oder Freundschaftsbeziehung steckt und trotzdem miteinander arbeiten kann und so lange auch...

Ja, das ist ein großes Glück. Da ist sicherlich auch Zufall mit dabei, so wie bei allen anderen Beziehungen auch. Also es gibt kein Geheimrezept, oder: da ist kein Kraut gewachsen, wo man sagen kann, wenn man das nimmt, dann wird das schon funktionieren. Aber es ist natürlich wie bei Liebesbeziehungen, oder bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen, sehr viel Arbeit, sehr viel Hingabe, sehr viel Rücksichtnahme, um das durchzuhalten. Aber es ist sehr schön und es wird eigentlich von Jahr zu Jahr schöner. (lacht)

Das ist so ein Satz, den man sagt, wenn man die silberne Hochzeit schon gefeiert hat.

Ja, das ist so ein silberne Hochzeit - Gefühl, ganz klar.

Tocotronic

Tocotronic

Tocotronic singen über Flucht - die Rezension zum roten Album.

Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel über euer rotes Album geschrieben, wo ich die These aufgestellt habe, dass es dabei nicht um Liebe geht, sondern um Flucht.

Ich hab den Artikel gelesen und ich habe den sogar sehr gerne gelesen und wenn ich mich recht erinnere, haben wir den sogar auf Facebook gepostet. Weil es - das klingt jetzt ein bisschen schleimig, aber es ist so - nicht so oft Artikel und vor allem Rezensionen von Alben gibt, die über so einen Standard an Beschreibungen oder über die Diskreption der Musik oder des Inhalts hinausgehen und die es wagen, so einen eigenen Zugang zu formulieren und zu artikulieren. Und das ist ja das, was ich an Kritik grundsätzlich für uns als Band sehr sehr interessant finde. Auch das haben wir immer versucht, als einen Teil von uns zu begreifen und nicht als Opposition, wo man sagt, wir sind die Band und ihr seid das Kritikervölkchen. Im besten Fall ist das ein Geben und Nehmen. Das sind ja auch Anregungen und oft kommt man ja als Kritiker_in auf Dinge, auf die man selber als Künstler gar nicht gekommen wäre, weil man ein bisschen betriebsblind ist, oder weil man so in dem eigenen Kosmos rotiert, das man bestimmte Deutungen gar nicht in Betracht gezogen hätte.

Das mit dem Thema Flucht ist sicherlich in dem Album enthalten, in sehr vielen Nebensätzen, oder Hauptsätzen, oder angedeutet.

Jetzt bietet ja natürlich jedes künstlerische Werk Interpretationsspielraum, gibt's da aber dennoch so eine Grenze, wo ihr sagt, die darf nicht überschritten werden?

Das wäre mir persönlich egal. Ich finde, das kann gar nicht weit genug gehen. Deine Deutung hinsichtlich des Fluchtthemas ist ja sicherlich in dem Album angelegt, es gibt ein Stück wie "Solidarität", das ganz explizit auf die Flüchtlingssituation - noch von vor vier Jahren - gemünzt war. Es gibt ein Stück wie "Ich öffne mich", wo es einen Satz gibt, der heißt: "Ich öffne die Grenzen für dich." Also das ist natürlich schon intentional. Und dann gibt es aber natürlich auch Interpretationen, witzigerweise oft im akademischen Bereich, Magisterarbeiten oder sowas, literaturwissenschaftliche Arbeiten, die über Songtexte geschrieben wurden... Da bin ich dann manchmal schon auch amüsiert und muss sagen, daran hätt' ich also wirklich im Traum nicht gedacht, dass diese Deutung dabei rauskommt. (lacht) Das find ich dann aber auch ganz witzig.

Tocotronic

Michael Peterson

Ihr setzt euch ja auch in eurem privaten und öffentlichen Leben, aber eben nicht nur in der Musik für Flüchtlinge ein. Wo denkst du ist derzeit die wichtigste Stelle an der man helfen kann?

Ich persönlich finde, es gibt überhaupt keine Verpflichtung, als Privatmensch auf eine bestimmte Art zu helfen. Es gibt ganz viele verschiedene Arten. Ich finde (...) Organisationen wie Pro Asyl, aber auch Organisationen von Flüchtlingen selber, wie "Refugeestrike", ich weiß nicht was die Pendants dazu in Österreich sind... Das zu unterstützen, das ist schon sehr sehr viel. Und sei's auch nur mit Geld oder durch die Verbreitung oder durch Werbung und so weiter.

Man kann auf kultureller Ebene was machen, man kann aber natürlich auch, wie es ganz viele Leute machen, die ich sehr bewundere, auf lokaler Ebene helfen. Kleider sammeln zum Beispiel. Ich finde da gibt's keinen Imperativ keinen moralischen, man kann das tun, man muss es nicht. Wenn man sich auch nur ein bisschen informiert, ganz passiv, ist das auch schon sehr sehr viel. Denn das Problem scheint mir jetzt zu sein, dass das Bewusstsein dafür langsam versickert. Das Problem scheint aus der Welt zu sein, wir haben jetzt - in Deutschland zumindest - deutlich weniger Flüchtlinge, als noch im letzten Jahr, durch die Schließung der Balkanroute. Jetzt gibt es halt wieder die Flüchtlingsbewegung über das Mittelmeer und dadurch monatlich, täglich, wöchentlich Todesfälle. Und das wird aber glaube ich medial sehr stark unterrepräsentiert, obwohl das furchtbar tragische Geschichten sind. Und allein das Bewusstsein dafür, dass es diese unmenschliche Abschottungspraxis gibt, ist schon sehr sehr viel wert.

Das finde ich jetzt im Augenblick eigentlich das Wichtigste, das Thema am Laufen zu halten. Und natürlich kann man auf ganz staatsbürgerlicher Ebene, zum Beispiel in Österreich, wo ja bald wieder eine Bundespräsidentschaftswahl ansteht, seine Stimme dem richtigen Kandidaten geben. Weil wer der Falsche ist, wissen wir ja.

Dirk von Lowtzow im FM4 Festivalradio

Das ganze Gespräch mit Dirk von Lowtzow gibt es am Sonntag, den 4. September, ab 15 Uhr im FM4 Festivalradio zu hören und im Anschluss für sieben Tage im FM4 Player.

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