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Daniela Derntl

Diggin' Diversity

3. 9. 2016 - 09:34

"Wehret den Anfängen? Wir sind schon mitten drin!"

Esther Bejarano hat als Akkordeonistin des Mädchenorchesters von Auschwitz das KZ überlebt. Jetzt macht die 91-Jährige antifaschistischen HipHop. Eine beeindruckende Frau, die sehr viel Wichtiges - auch über die AfD - zu sagen hat!

Musik hat ihr Leben gerettet. Esther Bejarano, geboren 1924 im Saarland als Tochter eines jüdischen Oberkantors, kam 1941 in ein Zwangsarbeitslager. Im April 1942 wurde sie nach Auschwitz deportiert, wo sie zuerst beim Arbeitsdienst sinnlos schwere Steine schleppen musste. Später kam sie in das Mädchenorchester des Lagers. Dort wurde die damals 18-jährige Akkordeonistin, ohne jemals zuvor das Instrument gespielt zu haben. Sie konnte nur Klavier und Blockflöte - aber das wurde damals nicht gebraucht. So verdankt sie ihr Überleben ihrem musikalischen Talent, denn sie schaffte auf Anhieb den deutschen Schlager "Bel Ami" auf dem ihr nicht vertrauten Instrument.

Esther Bejarano liest am 15.05.2013, zum 80. Jahrestages der Bücherverbrennung durch die Nazis, in Hamburg

dpa/Angelika Warmuth

Esther Bejarano: Lesung am 15. Mai 2013 in Hamburg, anlässlich des 80. Jahrestages der Bücherverbrennung durch die Nazis.

Die rund 42 Frauen und Mädchen des Orchesters mussten morgens und abends für die aus- und einmarschierenden Arbeitskolonnen, sowie für die neu angekommenen Menschen in den Zugtransporten spielen. Esther Bejarano erinnert sich:

"Auschwitz war die Hölle. Das Allerschlimmste war, wenn wir am Tor stehen mussten und spielen mussten, wenn neue Transporte ankamen. Die kamen auf besonderen Gleisen an, die direkt zur Gaskammer führten. Und wir mussten da stehen und mussten Musik machen, und die Insassen dieser Züge haben uns zugewunken und wahrscheinlich haben sie gedacht, wo Musik spielt, kanns ja nicht so schlimm sein. Das war die Taktik von den Nazis. Sie wollten, dass die Leute ohne Meuterei ins Gas gehen."

Esther Bejarano kam später in das Frauenstraflager Ravensbrück und konnte bei einem der Todesmärsche kurz vor Kriegsende fliehen. In ihrem Buch "Wir leben trotzdem" - erschienen bei Pahl-Rugenstein - beschreibt sie die Befreiung durch die Allierten so:

"Ein russischer Soldat brachte ein riesengroßes Bild von Adolf Hitler und stellte es auf den Marktplatz. Ein anderer russischer Soldat rief: Musik! Wer macht Musik? Ich nahm das Akkordeon und ging auf den Marktplatz. Alle stellten sich rund um das Bild. Ein amerikanischer und ein russischer Soldat zündeten es gemeinsam an. Adolf Hitlers Bild brannte lichterloh. Die Soldaten und die Mädchen aus dem KZ tanzten um das Bild herum und ich spielte Akkordeon. Dieses Bild werde ich nie vergessen. Das war meine Befreiung vom Hitler-Faschismus. Und ich sage immer: Es war nicht nur meine Befreiung, es war meine zweite Geburt."

Bejarano & Microphone Mafia

Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0 LU

Die 91-jährige Esther Bejarano macht noch immer Musik. Sie singt jüdische und antifaschistische Lieder mit der Band ihres Sohnes, der "Microphone Mafia", einem HipHop-Trio, das drei Nationen und drei Glaubensrichtungen vereint. Heute am Samstag, den 2. September, spielt sie mit der "Microphone Mafia" beim Volksstimmefest im Wiener Prater.



Aus diesem Anlass hier ein Auszug aus dem Interview vom 17. März 2016:

Frau Bajarano, ich nehme an, sie kennen Rachegefühle. Haben sie die noch immer?

Esther Bejarano: Als ich in Auschwitz war, habe ich immer Rachegefühle gehabt. Ich hab immer gesagt, ich muss mich rächen, an diesen schrecklichen Nazis und deswegen muss ich auch überleben. Also die Rachegefühle haben mir geholfen, zu überleben. Natürlich hab ich mich nie an irgendwelchen Nazis gerächt und irgendwas gemacht. Aber ich sage heute, dass ich in die Schulen gehe und über die Zeit im KZ erzähle, das ist meine Rache.

Sie halten unter anderem Vorträge und Lesungen in Schulen. Wie sind denn da die Reaktionen der Jugendlichen?

Sehr gut, aber das war nicht immer so. Ich gehe seit über 20 Jahre in Schulen und damals war das noch sehr schwer, überhaupt in die Schulen reinzukommen, weil da gab es Direktoren, die gesagt haben, dieses Thema ist tabu für uns, das wollen wir nicht mehr. Das war natürlich ein großer Fehler. Auch die Schüler, wenn ich dann irgendwann mal in eine Schule reingekommen bin, waren die überhaupt nicht aufgeschlossen, die haben einfach nicht den Mut gehabt, mich zu fragen. Das war für sie auch eine schwierige Angelegenheit. Aber jetzt, seit fünf Jahren, ist das ganz anders. Erstens gibt es jetzt viele Lehrer, die wollen, dass Zeitzeugen in die Schulen gehen und wenn ich dann etwas über mein Leben erzähle, dann sind die Schüler mittlerweile unheimlich aufgeschlossen und sie fragen ganz viel. Es ist eine Freude für mich, zu sehen, wie interessiert die Schüler sind. Auch die Schüler, die aus dem Ausland kommen, sind sehr interessiert an der deutschen Geschichte. Die sind manchmal mehr interessiert als die deutschen Schüler. Das wundert mich sehr, ist aber auf der anderen Seite eine schöne Sache. Ich fahre auch nach Auschwitz, vor kurzem war ich mit 1.000 Jugendlichen dort, das war großartig. Die hören überhaupt nicht mehr auf zu fragen, die wollen alles wissen. Dann war ich in Dachau mit einer internationalen Jugendgruppe, das war für mich eine wunderbare Sache.

Wie geht es ihnen denn, wenn sie Auschwitz wieder besuchen? Was sind die Gefühle, wenn sie den Ort wieder betreten?

Ich betrete den Ort nicht. Das letzte Mal, als ich in Auschwitz war, hat meine Lesung und die Befragung der Schüler in einer riesengroßen Schule in der Stadt Auschwitz stattgefunden. Ich vermeide es, in die Gedenkstätte zu gehen. Es ist für mich schwer dahinzugehen. Wenn ich in verschiedenen Jahreszeiten dahin fahre, dann ist das ein himmelweiter Unterschied. Wenn ich zum Beispiel im Winter fahre und alles voller Schnee ist, dann kann das noch so ähnlich sein wie damals. Aber wenn man im Sommer dahin fährt und plötzlich alles blüht, es Blumen und grüne Bäume gibt, das hatten wir alles gar nicht. Wir haben nur Lehmboden gehabt, es gab keine Blumen, keine Bäume, nichts gab es. Das ist etwas, das mich befremdet. Ich hab auch schon kritisiert, dass manche Maler oder Fotografen Auschwitz im Sommer fotografieren und bunte Bilder machen. Das ist unmöglich für mich. Das geht nicht. Wenn man wirklich einen Eindruck von Auschwitz bekommen will, so wie es damals war, dann muss man das auch so wiedergeben und keine Beschönigung mit Blumen und Bäumen machen.

KZ Auschwitz

APA/AFP

Sie sind nach dem Krieg nach Israel gegangen und 1960 nach Deutschland zurückgekommen, wo sie feststellen mussten, dass es noch immer Nazis gibt. Was war denn für sie die Initialzündung, dass sie politisch aktiv geworden sind?

Am Anfang hab ich mich überhaupt nicht politisch betätigt. Ich hab auch jahrelang nichts erzählt über meine Geschichte. Ich hatte eine kleine Boutique in Hamburg und eines Tages hat vor meiner Boutique plötzlich ein kleiner Infostand aufgemacht. Ich bin rausgegangen und hab gekuckt, wer ist das, und dann war das die NPD. Ich hab mir dann angekuckt, was die da auf ihrem Tisch haben, und es waren genau dieselben Slogans, die es damals gab. Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, ganz, ganz schrecklich. Dann kamen junge und ältere Leute, die dagegen protestiert haben. Mit Transparenten "Nie wieder Faschismus", "Nie wieder Krieg". Das hat mich sehr gefreut.

Dann kam aber die Polizei und die Polizei hat sich vor die Nazis gestellt und hat die Nazis geschützt. Das hat mich wahnsinnig geärgert. Da bin ich zu einem Polizisten und hab ihn gefragt: "Sagen Sie mal, wen schützen sie eigentlich hier? Das sind doch die Nazis, das sind doch diejenigen, die Deutschland ins Unglück gebracht haben und Sie stellen sich vor diese Menschen und schützen sie. Schützen Sie doch lieber die anderen. Diejenigen, die gegen die Nazis protestieren." Ja, und dann hat der zu mir gesagt: "Gehen Sie wieder in ihre Boutique, sonst kriegen Sie noch einen Herzinfarkt". Diese Reaktion hat mich noch mehr geärgert. Dann hab ich ihm am Revers gepackt und ihm gesagt: "Ich kann überhaupt nicht verstehen, was Sie hier machen und wie Sie sich mir gegenüber geäußert haben". Und dann sagte er zu mir: "Lassen Sie mich sofort los, sonst werde ich sie verhaften". Dann hab ich zu ihm gesagt: "Ja, das können Sie ruhig tun. Sie können mich verhaften, ich bin Schlimmeres gewohnt. Ich war in Auschwitz". Und dann hat sich einer von den Nazis eingemischt und hat zu dem Polizisten gesagt: "Diese Frau müssen Sie verhaften, denn Sie ist eine Verbrecherin. All diejenigen, die in Auschwitz waren, das sind alles Verbrecher".

Das hat mir gereicht und da war mir klar, jetzt muss ich anfangen zu erzählen. Und so hat das angefangen. Am nächsten Tag bin ich gleich in die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes eingetreten. Das war für mich sehr gut, denn am Anfang konnte ich gar nichts erzählen. Mir sind immer die Tränen runtergelaufen. Aber langsam hab ich mich daran gewöhnt, denn es ist wahnsinnig wichtig. Ich muss das tun.

Joran and Esther Bejarano

Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0 LU, User: Jwh

Sie haben einmal gesagt, dass "Wehret den Anfängen" schon gar nicht mehr stimmt, denn wir sind schon mittendrin. Was sagen sie denn zur aktuellen politischen Lage?

Ja, man sagt immer "Wehret den Anfängen". Ich würd mal gerne wissen, wo der Anfang ist? Es gab keine Entnazifizierung. Die ganzen schlimmen Nazis, die so und so viele Menschen auf dem Gewissen hatten, die konnten fliehen. Denen ist noch geholfen worden, damit sie in andere Länder fliehen konnten. Es gibt keinen Anfang, denn es ist nahtlos weitergegangen. Auch wenn man das nicht so gemerkt hat. Aber es gibt leider in Deutschland noch immer ganz viele Menschen, die von dieser Nazi-Zeit noch immer ganz begeistert sind und die sich das wieder zurück wünschen. Das sehen wir ja jetzt bei der AFD. Da sind viele Leute drin, die im Mittelstand sind und schon immer ausländerfeindlich und antisemitisch waren. Wir haben da eine große Last.

Wie erklären sie sich den Erfolg der AFD? Welche Menschen wählen diese Partei?

Hier kann man einen Teil des Interviews nachhören.

Das sind alles Leute, die wahrscheinlich mit ihrem Leben unzufrieden sind. Der Unterschied zwischen Reich und Arm wird immer größer. Der Kapitalismus erzieht die Menschen zum Egoismus. Die Menschen denken nur noch an sich. Sie wollen immer mehr und immer mehr. Haben Angst, dass ihnen irgendjemand etwas wegnehmen würde. Und es war ja damals schon genau dasselbe: eine große Arbeitslosigkeit und da sind die Menschen dann auf diesen Hitler reingefallen und sind ihm nachgelaufen. Und ich behaupte, wenn heute wieder so jemand kommen würde, so eine starke Kraft, dann laufen sie wieder hinterher. Ich habe da überhaupt keine Hoffnung, dass es nicht wieder so sein könnte, wenn nicht eingegriffen wird. Alle, die gegen die Nazis und die Faschisten sind, müssen zusammen stehen. Dann hat man Kraft und kann gegen die Nazis bestehen. Das geht aber nur gemeinsam. Alle!