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Lisa Schneider

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5. 9. 2016 - 14:34

Vier gewinnt

Der Londoner Musiker Jamie T hat soeben "Trick" veröffentlicht. Es ist sein viertes und bisher bestes Studioalbum.

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Im Teenageralter schwankt der Musikgeschmack naturgemäß hin und her. Zwischen dem, was die besten Freunde cool finden und dem, was die Eltern verabscheuen. Ich werde nie den Blick meiner Mama vergessen, als sie mir das neue Album von Placebo kaufen musste, "Sleeping With Ghosts", so ein obszöner Titel - und so ein obszönes Cover.

Meine Mama hat zu diesem Zeitpunkt nie Jamie T rappen gehört, gefallen hätte es ihr sicher auch nicht besser als Brian Molko. Es wäre die Art von Musik gewesen, die ihr Kopfweh macht. Anyway: teenagergetreu balancierend zwischen Marilyn Manson, verliebter Pop-Metalphase, deutschem, freundlichen HipHop im Sinne Blumentopfs und dem da noch so großen Gitarren-Indiepop der 00er Jahre fingen Jamie T und sein Stilmix mich und mit mir genau die Gruppe an Heranwachsenden ein, die sich noch nicht so ganz entscheiden wollten.

Jamie T

Joost Vandebrug

Nicht, dass er die nicht wollte, die Entscheidung, aber Jamie T fühlt sich eben einfach in so gut wie jedem Genre wohl. Mit dem Aussehen eines liebenswerten weißen Jungen aus einem Arbeitervorort Londons, der dir frech sein frisch gepierctes Ohrläppchen unter die Nase hält, betritt er als vermeintlich naive Erscheinung die Bühne. Um dort dann seine trotzig-rotzfrechen - er selbst bezeichnet sie als "dark"- Texte ins Publikum zu pfeffern, die von Mobbing in der Kindheit bis zum jetzigen Unzufriedensein mit dem eigenen Schaffen erzählen. Dinge, die eben jeder kennt. Und da holt sich Jamie T nicht nur alle Heranwachsenden, sondern jeden auf seine Seite.

When there's no one left to fight...

James Alexander Treays, so der Name laut Geburtsurkunde, tritt gegen Ende der besagten Zehnerjahre auf den britischen Musikplan: Geboren in Wimbledon, südliches London, kommen Songs wie "Sticks’n’Stones" zustande, eine wunderbar schrullige, Anti-Alles-Hymne für gehänselte Kids, für die, die gern tanzen und den Moshpit stürmen. Den Sarkasmus hat Jamie T schon sehr früh in seine Texte eingegraben, selbst wenn der Singalong-Mantel den meisten Melodien subtilerweise die Bissigkeit nimmt. Stöcke brechen die Knochen, nach dieser alten Weisheit, die Wortkombinationen von Jamie T jedenfalls brechen die Zunge.

2007 (Panic Prevention), 2009 (Kings and Queens): zwei erfolgreiche Alben, dann der Breakdown. Was genau, bleibt hinter den abgedunkelten Schlafzimmerfenstern gehütet, die Wörter "Panikattacken" treten auf in Beschreibung dessen, was vielleicht einfach nur der wohl überlegte Rückzug aus der Öffentlichkeit ist. Bitte doch einfach mal wieder Urlaub, kein Stress, keine Erwartungen. Jamie T hat sich dann kurz überlegt, andere Künstler zu produzieren, weil er das schon länger nebenbei betrieben hat und sehr gut kann. Wie das aber mit Obsessionen eben so ist, hielt der Stift niemals still und die Blätter um ihn herum füllten sich nach wie vor mit Ideen, Kompositionen. Das ist es, was er, wie er sagt, eben einfach am meisten liebt: Songs schreiben.

Jamie T

High Road Touring

Der Fluch, der bleibt

Mit dem selbstredenden Titel "Carry on the grudge" meldet sich Jamie T 2014 nach fünfjährigem Dornröschenschlaf zurück und klingt, als hätte er sich die rechte Hand auf den Rücken gebunden, um stattdessen mit der linken schreiben zu müssen. Es ist immer noch der mittlerweile bald 30jährige junge Mann, der es sich mit einer stringenten Coolness herausnimmt, Ska mit Folk und eklektische Elektronik mit Pop zu mischen. Alles auf einmal also, und oben drauf noch ein schönes, dichtes, übertriebenes Gitarrenrockriff gelegt, der Punkgeist schwebt über allem. Das hat sich zwar über Nacht nicht geändert, die Krallen fehlen dem dritten Album trotzdem. Es zuckt und ruckelt nicht mehr so, es ist gedämpft, fast könnte man meinen, der Reifen hat ein Loch.

Die Vergleiche mit Mike Skinner und Alex Turner, je nach Stimme oder Scheißdrauß-Attitüde, reißen zwar weiterhin nicht ab, das Projekt schwächelt trotzdem.

Und Jamie T macht das einzig Richtige: in seiner fünfjährigen Abstinenz haben sich in seiner Schreibtischschublade fast 200 Songs angesammelt. So viele, wie sie ein anderer Künstler vielleicht im Laufe seiner gesamten Karriere schreibt. Unruhig ist der Londoner Musiker zu diesem Zeitpunkt, so sehr, dass es nach diesem dritten Album sofort weitergehen muss. Die Medizin für den Getriebenen ist in dem Fall die Aufmerksamkeit, der Output verlangt Input. Die Presse ist ihm sicher, die Fans auch, Indie-UK nach wie vor. Seinen Thron muss er nicht räumen - und als hätten es manche gespürt, jetzt ist klar wieso.



Vier gewinnt

"Carry on the grudge" nämlich war der Vorbote zum Album Nummer vier, zu "Trick". Es ist deshalb so stark, weil es authentisch das verkörpert, wovon man gedacht hat, Jamie T würde es zurückhalten. Er macht aus "Tinfoil Boy" eine Hommage an Rage Against the Machine, donnert im Refrain "Boy, boy, boy, boy, boy", dass die Boxen am Boden wackeln, in düster-sinistrer Hymnenmanier. Er liebt The Clash, vor allem die Riffs von Mick Jones, das hört man. Oder, weiter im Spiel der ewigen Referenzen und Vorbilder: der Song "Robin Hood" zitiert beinahe wörtlich ("Riding in the back seat / rolling through the neighborhood") den Ramone’schen Blitzkrieg Bop.

Virgin Records

Das neue Album "Trick" von Jamie T ist via Virgin Records erschienen.

"Solomon Eagle" heißt nicht nur die dunkel gerappte achte Nummer des Albums, sondern ist gleichzeitig auch das Gemälde von Paul Falconer Poole, einem englischen Genemaler des 19. Jahrhunderts, dessen Rechte sich Jamie T eigens für sein Artwork gesichert hat. Zu sehen ist ein überzeichnet religiöser Prediger, der zur Zeit der Pest durch London läuft, eine brennende Schale am Kopf, und den abtrünnigen Bürgern vom Jüngsten Gericht erzählt. Jamie Ts persönlicher Tinfoil Boy schützt sich nicht vor der Pest oder dem Unglauben, sondern vor Chemtrails. Solomon 2.0? Jamie T 4.0.

Jamie T spielt im Zuge seiner Europatour am 9. November im Wiener WUK.

"Trick" ist dichter, aggressiver, lustiger, schneller, lauter, intensiver. Mehr, mehr, mehr, mehr Jamie T. Beide Hände befreit, laut schreiend nach vorne laufen, immer im Stakkato, ins Kornfeld, in den Wald, in die Wogen, in die Welt.

Meine Mama würde es sich nicht anhören wollen und das Kind in mir mag es wahrscheinlich auch deshalb doppelt so gern.