Erstellt am: 27. 9. 2016 - 09:09 Uhr
"Da wird selbst eine Ratte zum Tiger"
Ninas anderer Arm schnellte herum, ihre Finger bissen sich ihm seitlich in den Hals und drückten auf die Halsschlagader. Seine Knie gaben nach, sein Griff lockerte sich. Sein verblüfftes Gesicht glitt durch die Luft, ein sommersprossiger Mond.
Darf ich vorstellen: Nina Black. Eine junge, toughe Frau, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, die Männer, die sie spätnachts in Bars blöd anmachen, zu verprügeln. Um ihnen dann die Brieftasche zu entwenden, als Bußgeld quasi, für die erlittenen psychischen Schmerzen.
Mehr Buchempehlungen!
Halb Japanerin, halb Amerikanerin lebt Nina alleine in Denver, in einer heruntergekommenen Wohnung, in der ihr neben dem Goldfisch in der Kaffeekanne eigentlich nur die Schublade mit den gesammelten Geldbörsen heilig ist. Sie trainiert in ihrer zwielichtigen Straße, schlägt sich im wahrsten Sinne durchs Leben, wechselt die Sexualpartner nach Lust und Laune, lässt sich auf nichts und niemanden länger als ein paar Tage oder Wochen ein. Kontakt zur Familie oder Freunden gibt es nicht. Erst nach und nach erfährt man etwas über ihre Herkunft. Oder den Grund, wieso sie handelt, wie sie handelt.
Kellye Eisworth
Ninas Mutter hat ihre Kinder verlassen, als sie noch sehr jung waren. Der Vater der beiden dürfte sie misshandelt haben, bis Nina schließlich bei Jackson, einem alten Bekannten ihrer Mutter aus Okinawa, unterkommt. Dieser ist forsch, aber gut zu ihr – und unterrichtet sie in asiatischen Kampfsportarten. So lange, bis Nina es mit beinahe jedem aufnehmen kann, egal, ob weiblich, männlich, doppelt so groß, doppelt so schwer wie sie.
Die Geschichte setzt dort ein, als Nina erfährt, dass ihr Zwillingsbruder Chris an den Folgen seiner AIDS-Erkrankung gestorben ist. Und nicht nur die Botschaft, sondern auch die Übermittlung dieser holt sie aus allen Wolken: Plötzlich steht Isaac, Chris‘ ehemals bester Freud, mit Kate, Chris‘ achtjähriger Tochter, vor ihrer Tür. Sie haben lange gebraucht, sie zu finden, aber schließlich hat es doch geklappt.
Ihr Haar war wie das von Chris: schwarz wie Ruß, drahtig, aber glatt, mit blauem und rotem Schimmer. Eine Strähne fiel ihr übers Auge. Sie blies sie fort, wie Chris es immer getan hat, wie Kate es tat.
Nina ist nicht nur überrumpelt, sie ist regelrecht überfordert. Wie soll sie sich, mit dem Leben, das sie führt – ohne regelmäßiges Einkommen oder Versicherung – um ein Kind kümmern?
In der Nacht zuvor hatte sie einen Alptraum gehabt. Im Halbschlaf war Nina mit einer Flasche Scotch und zwei klirrenden Gläsern zu ihr geeilt, um sie zu beruhigen. Immer noch mit Tränenspuren im Gesicht, musste Kate kichern. „Nina, ich trinke keinen Alkohol. Ich bin acht.“
Chris hat nämlich sie als die Beziehungsberechtigte in seinem Testament vermerken lassen. Isaac sieht die Situation genauso skeptisch wie Kate, die er gleich wie seine Tochter ins Herz geschlossen hat.
Aber: Er ist verliebt in Nina. Und das schon, seit sie Kinder waren.
Blumenbar
Fight Girl von Erika Krouse ist in der Übersetzung von Teja Schwaner im Blumenbar Verlag erschienen.
Nina setzt, weil sie ungeahnte Gefühle für die kleine Kate entwickelt, alles daran, das Sorgerecht behalten zu dürfen. Mehrere Zwischenfälle bringen Isaac aber dazu, sie unbefugterweise zu sich zurückzuolen. Ninas Wohnung, Ninas Umgebung seien kein Ort für eine Achtjährige.
Nach einem schweren Kampf mit Cage, einem ehemaligen Cop, dessen Marke Nina gestohlen hat, heftet sich dieser Nina an die Fersen. Er will es ihr heimzahlen, sie hat ihn in seiner Ehre verletzt.
Isaac verschwindet mit Kate, Nina wird währenddessen beinahe zu Tode geprügelt. Doch ihr alter Lehrer, Jackson, findet sie. Baut sie wieder auf, hilft ihr, sich auf ihren „letzten Kampf“ vorzubereiten, denn sie beide wissen, Cage wird es solange versuchen, bis er sein Ziel erreicht hat. Der scheinbar völlig in sich ruhende, weise wirkende Jackson ist wie das Gewissen, dass sie während der Jahre des Diebstahls und Verprügelns abgelegt hatte. Zum ersten Mal bekommt Nina Angst um etwas, das sie verlieren könnte. Kate. Und Isaac.
Der Gedanke überraschte sie. Sie hatte neunundneunzig Kämpfe auf der Straße hinter sich gebracht, war Motorrad gefahren, hatte eine Straße mit geschlossenen Augen überquert […] Aber jedes Mal war sie wieder im Diesseits angekommen, schwer atmend und in alle Richtungen Ausschau haltend […] jetzt, da sie etwas zu verlieren hatte, war es anders.
Und tatsächlich, der folgende dritte Kampf mit Cage soll Ninas letzter sein.
Erika Krouse schreibt mit „Fight Girl“ eine Geschichte, die gleichzeitig Gangster-, Liebes-, Beziehungs-, und Sozialroman ist. Stellenweise erinnert sie an Luc Bessons berühmten Film „Léon – der Profi“, mit umverteilten Rollen.
Nina weiß nicht, was ihr im Leben gefehlt hat, bis sie Kate und Isaac trifft. Ebenso wenig weiß Isaac, wie wenig erfüllend sein Job als Werbefigur im Fernsehen ist. Hamlet wollte er sein, MacBeth, Othello. Stattdessen ist er entweder eine menschengroße Bananenschale, ein Himbeerjoghurtbecher oder Schlimmeres.
Geprägt von bitteren Vorgeschichten und tragischen Vorfällen stehen alle Charaktere zu Beginn der Erzählung wie von einer schwarzen Wolke umgeben. Nach und nach verweben sich ihre Wege, ein positiver Aspekt nach dem anderen beginnt, hervorzublinzeln.
Minus und Minus? Macht Plus. Oder, um es mit den von der Autorin zu Kapitelbeginn vielzitierten japanischen Sprichwörtern zu sagen:
Es kommt eine Zeit, da wird selbst eine Ratte zum Tiger.