Erstellt am: 24. 8. 2016 - 16:49 Uhr
Wenn ich doch bloß trauriger wäre
Ich weiß nicht mehr was ich im Sommer 2012 gemacht habe, aber ich weiß noch ganz genau, was ich gehört habe. Frank Oceans "channel ORANGE" lief da bei mir auf Dauerrotation, während ich mir vorstellte, auf einer Luftmatratze in einem Pool einer Villa in Los Angeles herumzutreiben. Mit dem Album setzte Frank Ocean einen Meilenstein für seine Karriere, für R‘n’B und für Road Trip-Playlists, um anschließend fast gänzlich von der Bildfläche zu verschwinden und eine Horde verwirrter Fans zurückzulassen.
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2013 meinte Frank Ocean, er arbeite an einem neuen Konzeptalbum und uns allen lief das Wasser im Mund zusammen, doch es würde schließlich noch drei Jahre dauern, bis uns etwas aufgetischt wurde.
Das Album, das so nie sein würde – eine Chronologie:
April 2014: Frank Ocean verkündet via seines Tumblr-Accounts (auf dem er bereits sein Coming Out zelebrierte), dass das neue Album fast fertig ist und "Boy Don’t Cry" heißen wird. Was folgt, ist der Beweis, dass Boys doch weinen. Nämlich die Boys und Girls, die nun, ohne es zu wissen, zwei Jahre auf ein Album warten werden.
November 2014: Das 1:55 lange "Memrise" geht online und verzaubert mit entspanntem Lo-fi Sound. Andere kleinere Releases hier und da folgen. Aber noch immer kein Album Release Date am Horizont.
Mai 2015: Statt an einem Album zu arbeiten, erstellt sich Frank Ocean einen Snapchat-Account und postet (bis heute) genau ein Video, in dem er eine Jacke der Band Television trägt und damit auf dem Geduldsfaden seiner Fans Schuhplattler tanzt.
Juli 2015: Frank Oceans Bruder rick rollt uns mit einem faken Link zum Album.
November 2015: A-Trak prophezeit via Tweet die Ankunft eines großartigen Tracks, um kurzdarauf die Nachricht zu löschen. Manche munkeln, es sei ein Frank Ocean-Track. Manche werden Recht behalten. Auch andere Stimmen, die von Tracks, Schnipseln und Videos erzählen, werden immer lauter und steigern die Vorfreude in fast unerträgliche Höhen.
Februar 2016: Sängerin Alessia Cara, ebenfalls bei Def Jam unter Vertrag, erzählt in einem Interview, dass Def Jam kein Material von Frank Ocean zu hören bekommen hat. Wie sich später herausstellt, ist das so, weil Ocean mit dem Album seinen eigenen Weg geht und auf Label Unterstützung verzichtet.
Februar 2016: Wir bekommen Frank Ocean zwar nicht zu hören, dafür aber nach langer langer Zeit wieder zu sehen. Lachend, klatschend und tatsächlich existierend (was einige überrascht) steht er einige Meter hinter Kanye West, als dieser "Life of Pablo" und die neue Yeezy Season 3 Kollektion präsentiert.
1. August 2016: Auf frankocean.com startet ein anfangs fälschlich als Livestream interpretiertes Video, auf dem Frank Ocean in einer riesigen Halle vor einer Boom Box des Künstlers Tom Sachs handwerkt. Vier Tage lang schauen wir ihm dabei zu, wie er im David Bowie-Shirt und Designer-Pullovern Holz und an unseren Nerven fräst. Am Ende des Videos sind ein Haufen Holzkisten fertig, aber noch immer kein Album da.
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19. August: Das "Visual Album" Endless erscheint. Ein 45-minütiger Zusammenschnitt des Heimwerkervideos mit 18 Tracks drüber. Und alle fragen sich, ist das das Album, auf das wir vier Jahre gewartet haben?
20. August: Jetzt geht alles ganz schnell. Ein schillerndes Video zu "Nikes" erscheint. Und dann das tatsächliche Album. Nicht mehr "Boys Don’t Cry" betitelt, sondern "Blonde" und alle sind schon so verwirrt, müde und fertig, dass es erst mal ein paar Tage dauert, bis erste ewtas perplexe und verhaltene aber doch positive Reviews erscheinen.
"Blonde"
Und nun zum Album. Die Kost ist leichter, aber doch schwerer verdaulich. Im Gegensatz zu "channel ORANGE", ist der "Blonde"-Sound nicht mehr ganz so dicht und die Themen nicht ganz so fokussiert. Frank Ocean übt sich im Experimentieren und lässt sich von seinem Bewusstseinsstrom leiten. Es geht wieder um Verlust, Liebe, melancholisches Joie de vivre, aber er scheint dabei viel niedergeschlagener und dadurch vielleicht auch entspannter. Weg vom R’n’B hin zu elektronischem Soul. Nachdem man in das Album mehrere Replays investiert hat, entdeckt man auch die versteckten Melodien, Samplefetzen und Radiotauglichkeit des Ganzen.
Auch die Features treten verhüllt auf. Als Kontributoren gelistet sind u.a. Brian Eno, Kanye West, Arca und Radioheads Jonny Greenwood. Doch selbst nach dem 100sten Mal hören, wäre ich nie draufgekommen, dass Beyoncé auf "Pink + White" "Take it easy" singt und als Backgroundsängerin herumharmoniert. Einzig die André 3000-Strophe "sticht", klar als 3-Stacks-Verse deklariert, ins Ohr.
Mit seiner 2012 Single "Pyramids" scheint Frank Ocean zu einem Faible für Gitarren und den dazugehörigen Solos gekommen zu sein, denn auf "Blonde" ist das Instrument der Stunde und des Albums das Saiteninstrument. Das Album zu meinem Sommer 2016 wird es nicht, aber wenn ich zwischen jetzt und 23. September (offizieller Herbstbeginn) noch ganz schlimmen Herzschmerz bekomme oder aus irgendeinem anderen Grund in ein tiefes Loch der Trauer falle, dann wird "Blonde" das einzige Album in meiner iTunes Bibliothek sein. Bis dahin bleibt es ein Album, das eine schwere Geburt hinter sich hatte und mir noch ein Weilchen unverdaut im Magen liegen wird.
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Und weil Frank Ocean und Warten mittlerweile synonym geworden sind, warten wir jetzt auch gleich noch ein bisschen darauf, dass das Zine, das zum Album erschienen ist und in dem Kanye West McDonalds ein Gedicht widmet, auch bei uns erhältlich ist. Frank Oceans Mutter beruhigt uns schon mal, dass es für viele erhältlich sein könnte.
Don't Pay those ridiculous prices for the mags on eBay. Just hang tight a sec..
— katonya breaux (@katonya) August 22, 2016