Erstellt am: 24. 8. 2016 - 11:41 Uhr
Summer Of 1975
Neunzehnhundertfünfundsiebzig. Der Vietnamkrieg geht endgültig zu Ende, in Spanien klingt mit dem Tod von Diktator Franco eine düstere Ära aus, die erste Weltfrauenkonferenz findet statt. In den Charts regieren Abba mit zuckersüßen Melodien, Gute-Laune-Disco ist im Vormarsch und die Aggression der Punkrevolution steckt erst in den Kinderschuhen.
Der Hai-Thriller des Jahres 2016:
Big Fish: Blake Lively gegen den Hai, das ist Brutalität. "The Shallows" ist ein nervenzerfetzender Strandausflug mit wohl dosierten Trash-Momenten.
1975, das ist rückblickend ein Jahr, in dem die Popkultur gemütlich stagniert und die Weltgeschichte für einen winzigen Augenblick zu relaxen scheint. Aufwühlende Katastrophen finden nur im Kino statt, wo Desasterschinken wie „Towering Inferno“ und „Earthquake“ für Nervenkitzel sorgen.
Eigentlich könnte man im Sommer 1975 fast sorglos am Strand liegen und die Unaufgeregtheit genießen. Aber im Juni ist es mit der Ruhe vorbei. "Jaws" läuft in den amerikanischen Kinos an und plötzlich bricht eine Welle der Hysterie aus. Nach dem Schocker rund um einen riesigen weißen Hai, der einen kleinen Badeort terrorisiert, will niemand mehr hinaus in die Fluten. Die Angst vor dem Grauen, das sich von unten den strampelnden Füßen nähern könnte, sie lähmt eine Nation.
Universal
Hoher Thrillerfaktor, keine Zwischentöne
Nicht nur Amerika befindet sich im Hai-Fieber. Erstmals in der Hollywood-Historie läuft ein Film simultan rund um den Globus an, vorangepeitscht von lautstarken Marketing-Kampagnen und begleitet vom dazupassenden, übrigens ziemlich coolen Hai-Merchandise. Mit „Jaws“ kündigt sich eine neue Ära an, die 1977 mit "Star Wars" einen frenetischen ersten Höhepunkt erreichen wird: Der Sommer-Blockbuster ist da, gezieltes Spektakelkino für die Massen.
Dabei hätte die gleichnamige Bestseller-Buchvorlage von Peter Benchley noch einen guten New-Hollywood-Film abgegeben. Denn der Roman setzt eher auf tristen Realismus statt auf Action, in der gruseligen Erzählung spiegelt sich auch das politische, zwischenmenschliche und kulturelle Vakuum der mittleren Siebziger Jahre wieder.
Eine Stimmung, die auch in anderen US-Filmen anno 1975 zu spüren ist, wie in "Dog Day Afternoon" oder "One Flew Over the Cuckoo's Nest". Steven Spielberg verzichtet aber auf die Zwischentöne des Buchs und pusht den Thrillerfaktor. Das allerdings so virtuos, dass der Film zu den, für mich, wenigen Meisterwerken des Regisseurs gehört.
Universal
Wir brauchen ein größeres Boot!
Wer genauer hinsieht, entdeckt trotzdem auch im Film „Jaws“ unter der Oberfläche - die im wörtlichen Sinne in beklemmende Tiefen führt - noch einige Themen des Buchs, die als New-Hollywood-Echo gelegentlich aufblitzen. Aber im Grunde geht es um perfekte und blutige Popcorn-Unterhaltung.
Die schundigen Inhalte der B-Movies sind, wie Spielberg selbst betont, im Mainstream angekommen. Und zwar dermaßen überzeugend inszeniert, dass an etlichen Strandorten der westlichen Welt die Tourismuseinnahmen einbrechen.
Der weiße Hai selbst, im Film von einer mechanischen Attrappe namens Bruce gespielt, die auch heute noch überzeugender wirkt als sein CGI-Pendant im aktuellen Schocker "The Shallows", wird mit dem Erfolg leider auch zur Bestie dämonisiert, zum Schrecken aller Tierschützer und der Autors Peter Benchley. Nach dem Sommer von 1975 ist jedenfalls nichts mehr so wie es vorher war, weder draußen in der frischen Meeresluft noch drinnen im dunklen Kinosaal.