Erstellt am: 23. 8. 2016 - 17:01 Uhr
The People v. O.J. Simpson
The People v. O.J. Simpson ist die erste Staffel der FX-Anthologie "American Crime Story", die wiederum ein Spin-Off der äußerst erfolgreichen Serie American Horror Story ist. Wie der Name bereits andeutet, geht es im neuen Format um die spektakulärsten Kriminalfälle der amerikanischen Justizgeschichte.
Rassismus, Polizeigewalt, tumultartige Proteste: In der Anfangssequenz von „The People v. O.J. Simpson“ sehen wir keine Bilder von der aktuellen Situation in den USA. Die zehnteilige Anthologie des Fernsehsenders FX führt uns vielmehr zurück in das Los Angeles der frühen 90er Jahre und erinnert doch so sehr an die Gegenwart. Die Gewaltorgie der Polizei gegen den Taxifahrer Rodney King und der Freispruch der involvierten Polizisten verwandeln die Innenstadt von L.A. in eine Bürgerkriegszone.
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Nur wenig später der nächste aufsehenerregende Fall: Nicole Brown, die weiße Ex-Frau des ehemaligen Football-Stars und Gelegenheitschauspielers O.J.Simpson wird ermordet vor ihrem Haus aufgefunden – zusammen mit ihrem Freund Ronald Goldman. Die Indizienkette führt schnell zu Simpson, den seine Freunde bloß „The Juice“ nennen. Neben zahlreichen Fakten - der Simpson-Case war der erste prominente Fall, bei dem die damals neue Methode des DNA-Tests zur Anwendung kam - deutete auch die gewalttätige Beziehung zu seiner Ex-Frau auf einen Eifersuchtsmord hin.
I am not black, I am O.J.
Doch Simpson ist kein gewöhnlicher Verdächtiger, sondern ein Held made in America. Er symbolisierte den Aufstieg vom schwarzen Kid aus ärmlichen Verhältnissen zum Superstar wie kaum ein anderer in dieser Zeit. Dabei hatte sich Simpson auf seinem Weg nach oben weit von seinen Wurzeln entfernt. Längst galt er in der Community nicht mehr als „brother“. Viel lieber posierte er mit weißen Hollywoodfreunden und den Cops des umstrittenen LAPD. Er lebte in einem Villenviertel, wo man als Nichtweißer höchstens im Garten arbeitet oder am Morgen die Milch bringt und war der erste schwarze Prominente, der einen millionenschweren Werbevertrag mit einer großen US-Firma abschließen konnte. „I’m not black, I’m O.J.“, sagt er einmal in der Serie.
Schnell scharrt sich um den Verdächtigen eine Riege von Staranwälten, das sogenannte “Dream Team”, angeführt von Robert Shapiro. Aufgrund der aussichtslosen Faktenlage erklärt er den Mordfall kurzerhand zur Rassenfrage und hievt ihn somit auf eine gesellschaftspolitische Ebene. Wie gut für die Verteidigung, dass einer der Ermittler in der Vergangenheit tatsächlich als brutaler Cop aufgefallen war, dem das N-Wort nur allzu leicht über die Lippen kommt. Shapiro wird von John Travolta verkörpert, der mit der Rolle des knallharten Winkeladvokaten wieder einmal einen schauspielerischen Frühling erlebt.
Der Prozess selbst gerät zu einem voyeuristischen Spektakel: 90 Millionen Menschen sind live im Gerichtssaal dabei bei dieser Frühform des Reality-TV. Legendär ist die Verfolgungsjagd, die sich Simpson vor seiner Verhaftung mit der Polizei lieferte und die auf allen Kanälen im Hauptabendprogramm übertragen wurde. Diese berühmte slow car chase auf den Freeways von L.A. war eines der zentralen Ereignisse einer neuen Fernseh-Ära. Und die brachte uns den „Breaking News“-Wahn, Live-Dauersendungen ohne nenneswerten Nachrichtenwert und Celebrity-Formate wie etwa TMZ. Der in den USA als „Trial of the Century“ bezeichnete Prozess war für das Magazin „The New Yorker“ der bizarrste der gesamte US-Rechtssprechung. Und er endete trotz erdrückender Beweislast gegen Simpson mit dem bekannten Urteilsspruch: nicht schuldig.
Cast and Characters
Wie alle aktuellen Serien legt auch „The People v. O.J. Simpson“ großen Wert auf detailreiche Charakterstudien. Und diese Charaktere sind gefangen zwischen ihrem Gewissen und den Verpflichtungen, die sie gegenüber den Klienten, der Gesellschaft, oder ihren Familien eingegangen sind. Von der ersten Bilderfolge an ist klar, dass es den Machern rund um Ryan Murphy ("Glee", "American Horror Story") um Aktualitätsbezüge geht. Trotz der mittlerweile routinierten Detailtreue in Bezug auf Ausstattung, Ästhetik und Pop-Referenzen, gerinnt „The People v. O.J. Simpson“ nie zum campy Periodenstück.
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Vielmehr wird der Trend zu True-Crime-Dramen geschickt mit aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten über Rassismus, Celebrity-Kult und Sexismus verknüpft. So muss etwa die zunächst siegessichere Staatsanwältin Marcia Clark, gespielt von Sarah Paulson, einen Schwall an öffentlicher Demütigung über ihr Aussehen und die Verantwortung als alleinerziehende Mutter über sich ergehen lassen – damals noch völlig unsanktioniert. David Schwimmer spielt mit seinem aus „Friends“ bekannten Dackelblick den treuherzigen Freund, dem im Laufe des Verfahrens Zweifel über die Unschuld von „The Juice“ überkommen. In der Serie verkörpert Schwimmer den Anwalt Robert Kardashian, der in einer der gar nicht so wenigen humoristischen Szenen seinen Töchtern (Ja, diese Töchter) erklärt, dass Berühmtheit vergänglich und deshalb ohne Wert sei. Für die Kardashians zähle nur Freundschaft, Treue und Familie. Bekanntlich rebelliert der Nachwuchs bis heute gegen den Ratschlag des Vaters.
O.J. Simpson wurde in einem Zivilprozess doch noch für den Tod seiner Ex-Frau und ihres Freundes verantwortlich gemacht und zu einer Zahlung von 33 Millionen Dollar Schadenersatz verdonnert. Davon ist er allerdings bis heute einen Großteil schuldig beblieben. Derzeit verbüßt O.J. in Nevada eine Haftstrafe wegen bewaffneten Raubes und Geiselnahme. Auf der Suche nach Erinnerungsstücken hatte er in einem Hotel Fanartikelhändler überfallen. Die nächste Chance auf vorzeitige Entlassung bekommt Simpson 2017.
Wie sehr die Serie im Heute aufschlagen soll, zeigt sich an der umstrittenen Besetzung der Hauptrolle. Während das übrige Cast bis zur Verwechslung mit den Originalen hingeschminkt wurde, weist Cuba Gooding Jr. äußerlich nur wenige Ähnlichkeiten mit Simpson auf. Es würde ihm am verführerischen Charisma des gefallenen Football-Helden fehlen, lautet der häufigste Einwand.
Kanye West, Ice Cube oder A Tribe Called Quest: O.J. Simpson war und ist auch weiterhin eine fixe Referenzgröße im Hip Hop. So auch im Stück „Go DJ“ von Kendrick Lamar. Findet ihr die Stelle mit dem O.J.?
Doch es ist gerade dieser kreative Kniff, der „The People v. O.J. Simpson“ über die Sphäre des Gerichtsdramas mit biografischem Anstrich hinaushebt. Die Figur von Simpson wird zur Projektionsfläche, in der sich sowohl die schwarze Minderheit als auch das weiße Establishment spiegeln. Dieser in einer Person vereinte Antagonismus steht symbolisch für die Bruchstellen der US-Gesellschaft, die noch heute Fragen nach Gleichheit und Gerechtigkeit überlagern.
Am Ende dieser brilliant besetzten Serie stehen alle Beteiligten als Verlierer da - selbst die Gewinner. Die grundlegenden Probleme wurden nicht gelöst, sondern bloß instrumentalisiert. Schnitt in die Gegenwart.