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Daniela Derntl

Diggin' Diversity

16. 8. 2016 - 15:25

Wo der Barthel den Mosh holt

Das preisgekrönte, ungarische Sziget-Festival hat mit seinem enormen Rahmenprogramm wieder einmal alles richtig gemacht. Mit dabei: Muse, Manu Chao La Ventura, Rihanna, Roisin Murphy und viele mehr.

Menschen, so viele Menschen.

90 000 jeden Tag, sieben Tage lang. Aus rund 90 Nationen, vorbildlich friedlich, ungemein freundlich. Den Massen zum Trotz lief das Sziget, das viel mehr als Festival der Kunst und Kulturen, denn als eindimensionales Musikfestival verstanden werden soll, wie geschmiert.

Sziget.hu/Sandor Csudai

Es war ein entspanntes Schnurren und fröhliches Summen auf der Obudai-Donauinsel in Budapest. Die Veranstalter wussten mit ihrer Verantwortung umzugehen, die Sicherheitskontrollen sind strenger geworden. Die Wartezeiten haben sich dennoch in Grenzen gehalten, der lang erprobten Festival-Logistik, den Cashless Payment Systems und den tausenden freiwilligen Helfern und Helferinnen sei Dank.

Sziget.hu/Rockstar Photographers

Am Donnerstag ist die riesige Festival-Maschine dennoch ins Stocken geraten. Noch mehr Menschen drängten sich auf dichten Wegen, manche wurden auch gesperrt und diese Sackgassen hatten etwas klaustrophobisch Bedrohliches, wenn die aufgedrehte Masse hinter einem nur noch ein Ziel kennt: Rihanna auf der Hauptbühne sehen und feiern.

Aus Letzterem wurde aber nicht wirklich was: "I love her, but this was shit", sagte ein enttäuschter Fan nach der Halbplayback-Show und es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass das Konzert so begann, wie es enden sollte: mit Warten und der Frage, ob da noch was kommt? Rihanna war nämlich eine halbe Stunde zu spät und ging auch ohne Wiedergutmachung in Form einer Zugabe. In den verbliebenen 60 Minuten glänzte sie auch einen ganzen Song lang mit Abwesenheit, ihre Stimme dröhnte derweil aus der Konserve. Der Sound war flattrig, dünn. Parov Stelar vor ihr war mit seiner Band eine Wall-Of-Sound dagegen.

Auch die schönen und agilen Tänzer, die soliden Backgroundsängerinnen und der furiose Gitarrist bei "Desperado" halfen nichts. Es war fad und freudlos.

Sziget.hu/Sandor Csudai

So wurde bald nur noch in den vorderen Reihen gejubelt und geklatscht. Die hysterischen Euphorie-Schübe bei Hits wie "Umbrella", die, Rettungsringen gleich, gierig in Empfang genommen wurden, fanden ein jähes Ende, wenn sie dem Publikum nach ein oder zwei Minuten wieder unsanft entrissen wurden. Erst zum Schluss hat Rihanna gezeigt, dass sie auch könnte, wenn sie wollen würde, aber - sie will halt nicht - auf Dauer.

"Anti" ist der programmatische Titel ihres neuen Albums und der aktuellen Tour und immer mehr Menschen waren dann auch "Anti Rihanna" und verließen, ihrer Erwartung beraubt, den Schauplatz. Aber das Sziget bietet genug Alternativen. Man muss hier, wenn überhaupt, nicht lange traurig sein.

Sziget.hu/Rockstar Photographers, Major Kata

Trost spendete beispielsweise die gut angejazzte Performance der französischen AkrobatInnen "Transe Express", die das Publikum auf eine magische und luftige Reise durch die Welt der Flora, Fauna und Fantasie mitnahm.

Sziget.hu

Sziget.hu/Sandor Csudai

Ästhetisch schwer beeindruckend war auch die mit Slapstick- und Opern-Einlagen unterlegte Badewannen-Turnstunde "Soap" und heuer, so hatte man den Eindruck, hat sich auf dem Performance-Parkett noch mehr getan als die Jahre zuvor. Denn es gab gleich zwei dafür ausgerichtete Zelte beim Sziget und die langen Warteschlangen davor sprachen für die Meisterschaft darin.

Sziget.hu

So verhielt es sich auch beim Luminarium, einem Ort der Entspannung vom allzu harten Festivalalltag, der schon seit vielen Jahren zum Sziget-Inventar gehört. Die handgefertigte, mit Luft gefüllte Plastikskulptur beseelte mit bunten Lichtern, sanfter Musik und weichen Liegeflächen, deren Labyrinth-artige Konstruktion der gotischen und islamischen Baukunst nachempfunden wurde.

Sziget.hu/Mózsi Gábor

Sziget.hu/Sandor Csudai

Es war vielleicht der erholsamste Ort des Festivals, vor allem, weil der Beach-Floor wegen kühler Temperaturen und hohem Donau-Pegelstand heuer nicht ganz so einladend war wie sonst.

Sziget.hu/ Gottscháll Gergö

Ein schöner Kontrast zum restlichen Programm war auch die Fidelio-Klassik-Bühne. Das tiefenentspannt auf Sandsäcken knotzende Publikum lauschte und lachte Tränen, wenn illuminierte Festivalbesucher und -besucherinnen ein Orchester dirigieren sollten, während danach Opernsänger und Sängerinnen den Beweis erbrachten, dass das E in E-Musik nicht immer für "Ernst" stehen muss.

Sziget.hu/Mudra László

Viel zu entdecken gab es auch auf der Afro-, World Music oder European Stage, auf der am Freitag Avec im eklektischten Festivalgedöhns mit ruhiger Musik stimmungsvolle Akzente setzte.

Sigur Ros ist das, leider, leider, kaum gelungen. Um halb Acht auf der Hauptbühne am Samstag, vor Muse, hatten sie es reichlich schwer, die Aufmerksamkeit des zappeligen Publikums zu gewinnen. Eine große Band auf verlorenen Plätzen. Schade darum.

Sziget.hu

Natürlich gab es auch viele schlechte, seichte und uninteressante Musik-Darsteller: David Guetta zum Beispiel oder K.I.Z., die deutsche Mucker-Macker-Boyband mit berechnendem Provokationseifer und Eierschaukel-Kirmesmusik. Aber wozu meine Zeit verschwenden?

Sziget.hu/Sandor Csudai

Berrauschend wie Palinka, das süßlich-scharfe, ungarische Nationaldestilllat, war hingegen UNKLE, die rund um Genre-Pionier James Lavelle dem guten, alten Trip Hop der Neunziger Jahre eine wirkungsvolle Frischzellen-Kur verpasst haben. Das neue Album kommt noch heuer, die aktuelle Single "Cowboys or Indians" und alles beim Konzert Gehörte lassen hoffen.

Sziget.hu

Angenehm unaufgeregt, gewohnt nonchalant und bestangezogenst feierte die irische Disco-Diva Roisin Murphy am Samstag - vor allem sich selbst - und es war wie jedes Mal eine große Freude, ihr dabei zuzusehen und zuzuhören: funkig, jazzig, housig eiernde Beats statt großer Hits, aber dann, zu guter Letzt, doch noch "Sing it Back" lässig aus dem weißen Rüschenmonster geschüttelt. Nach dem Konzert wird noch eine bierbedoste Ehrenrunde im "Dominator"-Sport-Shirt auf der Bühne gedreht: Cheers, du bist die Coolste - so schnell macht ihr das niemand nach.

Sziget.hu/Sandor Csudai

Headliner Manu Chao La Ventura flogen in der Freitagnacht alle Herzen und süßen Rauchwolken zu. Was für ein bescheidender Frontman, wie gleichberechtigt und gleich wichtig da alle auf der Bühne standen. Die grundsympathische Band ohne Ego sprach viele wichtige Dinge an (Refugees, Respekt, Monsanto, Marihuana) und verbreitete Hoffnung und Mut und theaterte dabei das Publikum so dermaßen in Rage, dass dem braven Familienvater vor mir, der, unweit vom Moshpit, seine zwei Kinder und offensichtlich größten, kleinen Manu-Chao-Fans, vor der entfesselten Tollerei beschützen wollte, der Angst-Schweiß von der Stirn stürtze. Unvergesslich, seine Blicke! Aber er blieb - wie ein Fels in der Brandung, inklusive Handshakes mit dem Ober-Vandalen danach. Die Menschen waren also ausgesprochen verständnisvoll und nett zueinander, ja, sogar die Dixie-Klos waren weniger furchtbar, jede Entgrenzung sozial verträglicher. Wie macht das das Sziget nur?

Sziget.hu

Sehr wichtig bei jedem Festival, vor allem, wenn es sieben Tage dauert, war natürlich das Essen. Manche Besucher und Besucherinnen meinten sogar, dass das kulinarische Angebot überhaupt das Allerbeste am ganzen Zirkus sei. Angesichts des ausufernden Rahmenprogramms, eine Behauptung, die man sich auf der Zunge zergehen lassen musste, und ja, sie hatten nicht unrecht. Für Festivalverhältnisse war das Essen überragend: das genial-scharfe Pad Thai vom Vietnamesen so gut, dass ich es jeden Tag essen musste. Fast alle Küchen waren vertreten (außer die lecker indische aus den Vorjahren nicht mehr) und der, zumindest für mich, neue Festival-Essenstrend machte unfassbar viel Sinn: Frühstück 24/7.

Sziget.hu/Sandor Csudai

Auch gut war das Gamelandhub, wo sich motorisch Feingetunte in Kolibri-Flügelschlag-Geschwindigkeit mit Rubikswürfeln duellierten und nebenan eine Lego-Kapelle lautstark Techno fabrizierte. Ein paar Meter weiter das Schachzelt, die überdimensionale "Before-I-die-I-want-to"-Wunsch-Tafel, zahlreiche Kunstinstallationen sowie die Funfair, mit dem Flair eines alten, kommunistischen Vergnügungsparks.

In den Momenten, in denen man keiner Band nachjagte, zeigte das Sziget seine wahre Pracht. Denn die nimmermüde-pumpende Musik war tatsächlich nur das Pünktchen auf dem I. Die wahren Stars waren die vielen Möglichkeiten, die Eindrücke, Erfahrungen und neuen Freunde, die man sammelte.

Sziget.hu/Sandor Csudai

Zu ungemein harten Höhen hat sich am Samstag Muse aufgeschwungen, ein Konzert, das mich tatsächlich wieder mit der Band versöhnt hat. Nach ihrem vorletzten Wiener-Stadthallen-Konzert war ich relativ enttäuscht von dem Trio, das sich damals im aufdringlichen Bühnen-Bombast versteckt und verloren hat. Aber beim Sziget war es Muse pur ohne Firlefanz. Höchst spielfreudig, virtuos und druckvoll peitschte Matt Bellamy, dem leider das Charisma eines Entertainers fehlt und kaum je ein Wort an das Publikum richtet, dieses vor sich her. Er war sichtlich angetrieben von den schwerst motivierten 90 000 Menschen vor ihm und seinem abschließenden "Köszönet Sziget" kann man sich getrost anschließen - und auch einmal "Danke" sagen. Es war mal wieder ein Volksfest!

Sziget.hu/Sandor Csudai