Erstellt am: 16. 8. 2016 - 14:33 Uhr
Manische Mischpoche
Note to self:
Das wichtigste an dieser Buchreview ist Zurückhaltung, Gerlinde.
Einfach nichts spoilen, damit die Überraschungen im Buch eine nach der anderen beim Lesen ihre Wirkungen entfalten können.
Nele Pollatschek hat gleich mit ihrem ersten Buch einen Komik Volltreffer gelandet. So im Sinne von "Komik ist Tragik in Spiegelschrift" (Max Herre).
Kiepenheuer & Witsch
Hallo ich bin's, der Tod
"Das Unglück anderer Leute" von Nele Pollatschek ist soeben bei Galiani Berlin erschienen.
Ich-Erzählerin Thene, 25 Jahre alt, studiert normalerweise in sicherem Abstand zu ihrer Familie in Oxford. Da bringen Thenes Promotion und ein Todesfall in der Familie die ganze Mischpoche zusammen, und wir lernen nicht nur etwas über jüdische Begräbnisbräuche.
"Georg sprang sofort auf, um seine manische, besoffene Mutter vom Sarg zu zerren. Er blieb dann aber doch ein paar Schritte entfernt stehen, als er sah, dass niemand außer ihm Oma Liesls Ausbruch für unangebracht hielt und er eher als herzloses Schwein wirken würde, wenn er eine trauernde alte vom Sarg zöge. Eine jüdische Beerdigung ist vielleicht der einzige Ort, an dem die übertrieben pathetische Emotionalität einer manischen Alkoholikerin nicht deplatziert wirkt."
Schlimmer als Sedaris
Nele Pollatschek legt Schicht um Schicht die komplett durchgedrehten Verwandtschafts- und Verrücktheitsverhältnisse sämtlicher Generationen frei. Schlimmer als bei David Sedaris!
Thene und ihre Patchworkgeschwister straucheln unter der Last des Helfer- und Wichtigtuersyndroms ihrer Mutter, der Feigheit des Vaters, und diverser noch zu entdeckender Symptome von Großeltern, Putzfrauen Angeheirateten, und orthodox Erleuchteten. Und dann hat das Buch auch noch ein aberwitziges, sich ebenfalls in Stufen entfaltendes Ende.
Es gibt in komisches Leben im traurigen
"Der Vorteil einer beschissenen Kindheit ist, das man lernt, routiniert mit Katastrophen umzugehen. Während andere im Sturm anfangen, mit ihren Ängsten zu ringen und mit den Tränen zu kämpfen, bleibt man selbst ganz ruhig, befestigt die Takelage und verschiebt emotionale Ausbrüche auf die Zeit, wenn das Schiff im sicheren Hafen angekommen ist. Und so ratterte mein Gehirn alle Möglichkeiten und Handlungen durch, schnell und analytisch, eher Schachspiel als Todesfall."
Nele Pollatschek ist entweder ein Dialog-Genie oder sie hat eine verzweifelt gute Beobachtungsgabe. So lustig waren Tod und Familie schon lange nicht mehr.
Es bleibt in der Familie
AutorInnen, die auch eine Schwäche für crazy Familien und Todesfälle haben:
- David Sedaris, "Dress Your Family in Corduroy and Denim" - Wegen all der Peinlichkeiten, die die Sedaris-Geschwister in ihrer Kindheit durchgemacht haben, mussten zwei davon später KünstlerInnen werden.
- Charlotte Roche, "Schossgebete" - Ihre Therapeutin hat Roche davon abgeraten, die Erinnerung an den Tod ihrer drei Brüder als Buch zu verwursten. Jetzt ist es auch ein Film.
- William Shakespeare, "The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark" - Verständlicherweise kommt der junge Hamlet, der sonst in sicherem Abstand zu seinen Altvorderen in Wittenberg studiert, mit dem neuen Patchworkmodell seiner Familie nicht klar.
- Alice Miller, "Du sollst nicht merken" - Grausige Dinge stellen verrückte Eltern mit ihren verständnisvollen Kindern an. Vielleicht ist die Lektüre auch für Dich erhellend.