Erstellt am: 16. 8. 2016 - 12:49 Uhr
World Music: "Distant Relatives"
Der Sommer lässt zu wünschen übrig, also reisen wir ihm hinterher. Die "FM4 Excursions" machen in Episode 6 ihrer Signation alle Ehre und gehen auf "Adventures in the land(s) of music". Reiseleiter Trishes führt uns in seinem Mix vom Osten Afrikas über den Nahen Osten auf den indischen Subkontinent. Wir hören Jazz aus Äthiopien, Psych-Rock aus der Türkei der 1970er, Bollywood-Songs im Wert von 500.000.000 Dollar, hebräische Gedichte aus dem 17. Jahrhundert. Und wir hören, wie HipHop diese weit verstreuten Verwandten aufspürt. Manchmal in Form eines Reisesouvenirs, manchmal als Modeaccessoire, manchmal als musikalische Liebeserklärung.
FM4 Excursions
Bunt gemixte Assoziationsketten, die Wurzeln aktueller Sounds und Einflüsse auf die musikalische Jetztzeit. Die Excursions-Themen-Mixtapes gibt es in der Nacht von Montag auf Dienstag ab 0 Uhr und im Anschluss für 7 Tage im FM4 Player. Ein Klick auf die Links führt zu den Songs direkt im Mix von Trishes.
Äthiopien: "Ethio-Jazz"
Die Reise eröffnen Bob Marleys Sohn Damian Marley und Street Poet Nas mit ihrer ersten gemeinsamen Single "As We Enter". Der Song entstammt ihrem Kollabo-Album "Distant Relatives" (2010), auf dem sie souverän die entfernten Verwandten Kingston-Reggae und New York-Rap vereinen. Für das Instrumental lässt Producer Damian Marley sandige Orgelklänge aus Äthiopien einfliegen: das Wüstenstaub aufwirbelnde "Yegelle Tezeta" (1969) von Ethio-Jazz-Vater Mulatu Astatke.
CC BY-SA 2.0, Ville .fi on Flickr
Der Vibrafonist und Percussionist bringt vor 45 Jahren den Spirit der Jazzclubs aus den USA nach Äthiopien, vermengt traditionelles Liedgut und latein-amerikanische Rhythmen zum landeseigenen Ethio-Jazz – einem Vorläufer dessen, was heute aus eurozentristischer Perspektive gerne Weltmusik genannt wird. Weitgehend bekannt wird Astatke erst in den Nullerjahren, als Regisseur Jim Jarmusch sein meditativ-treibendes "Yegelle Tezeta" dem Soundtrack seines Films "Broken Flowers" (2005) beifügt.
Türkei: "Write Journalists, write!"
Wir reisen weiter nördlich, in die Türkei der 1970er-Jahre, dreißig Jahre vor Erdoğans Säuberungswelle. Volkssängerin Selda Bağcan, kurz: Selda, experimentiert mit westlichem Rock´n´Roll und psychedelischer Elektronik. In ihren Protestsongs beklagt sie in kurdischer Sprache die Armut der türkischen Arbeiterklasse, wofür sie mehrfach im Gefängnis landet.
Trishes würdigt Selda mit zwei Songs aus dem Jahr 1976, die US-HipHop-Produzenten zu neuen Beats inspirierten. Den Refrain des groovenden "Yaz Gazeteci Yaz" übersetzt das Internet so: "Write Journalists, write!". Konkret: "Don’t write about the working hands in Germany […] Write about widowed slaves in Turkey". Ihre peitschenden Synths schnappt sich Stones Throw-Rapper Percee P für sein "Reverse Pt. 2" (2007), das auch ein immens treibendes Gitarrenriff von Seldas zweitem Stück "Ince Ince" enthält. Hier richtet sich ihr Protest an die Mächtigen der Türkei: "We're doomed, education to us, roads to us, life to us. Come now sir, please, please, please …".
Auch Mos Def bannt diese Gitarrenpassage im Dauerloop seines famosen "Super Magic" (2009). Dr. Dre verarbeitet sie in "Issues" auf seinem Comeback-Album "Compton" (2015). Im Interview erklärt Selda, dass ihr von allen bekannten Versionen jene von Mos Def am meisten zusagt. Vielleicht, weil dieser deutlich weniger das Wort "Fuck" in den Mund nimmt als N.W.A.-Kumpane Ice Cube. Vielleicht, weil bis dato von Dr. Dre noch keine Tantiemen eingetrudelt sind.
Israel: "Thinking of a Masterplan?"
Die britischen Producer Coldcut fassen das Motto unseres Trips noch einmal zusammen: "This is a journey into sound. A journey which along the way will bring to you new color, new dimension, new value." Mit diesem Versprechen eröffnen Coldcut 1987 ihren Remix von Eric B & Rakims Klassiker "Paid In Full". Tatsächlich erleuchten ihre "Seven Minutes Madness" den straßenverbundenen HipHop im Stroboskop der Tanzfläche. Rakims Suche nach dem Mammon verleihen sie mit Ofra Hazas Interpretation des hebräischen Gedichts "Im Nin’alu" (1984) eine spirituelle Note.
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Die israelische Popsängerin vertont mit hochtrabendem Gestus das jemenitisch-jüdische Poem von Rabbi Shalom Shabazi aus dem 17. Jahrhundert. Die Zeilen im Remix zu "Paid in Full" übersetzt Wikipedia so: "Selbst wenn die Pforten der Reichen sich schließen, die Pforten des Himmels bleiben immer offen." Der finanzielle Kontext passt zu Rakims Lyrics, auf göttliche Fügungen verzichtet der Rapper aber. Vielmehr retten ihn "a pen and a paper, a stereo, a tape". Es bleibt das Gefühl, dass Coldcut in ihrer Sample-Wahl mehr auf Form als auf Funktion hörten.
Dennoch: Ihr B-Seiten-Remix schlägt international mehr Wellen als das Original vom gleichnamigen Kult-Album aus dem Jahr 1987. Eric B bezeichnet den Remix zwar als "Girly Disco Music", Rakim aber zeigt sich begeistert. Ofra Haza hingegen ist verärgert, dass niemand sie fragte, ob sie auch dabei sein will. Der Erfolg des Coldcut-Remix verpasst ihrer Karriere aber einen entscheidenden Boost.
Indien: Welcome to Planet Bollywood
Trishes Reise endet am indischen Subkontinent, wo die Traumfabrik Bollywood das Schönheitsideal vorgibt. Bollywood-Filme sind massenhaft produzierte Musical-Streifen, in denen hauptsächlich getanzt und geheiratet wird. Einerseits will das Hindi-Kino nicht mit westlichen Filmstudios verglichen werden, andererseits formatiert es deren Filmthemen mit den neun traditionellen Bestandteilen indischer Kunst ("Rasas"): Liebe, Heldentum, Ekel, Komik, Schrecken, Wundersames, Wut, Friedvolles, Pathos.
Ebenfalls jahrzehntelang eine Zutat des Bollywood-Kinos: Sängerin Lata Mangeshkar. Die 1929 geborene "Nachtigall Indiens" trällerte sich in über 900 Filmen ins kollektive Gedächtnis Indiens. Trishes zitiert zwei ihrer Film-Beiträge, die den Boollywood-Trend auch in die Sampler amerikanischer HipHop-Produzenten brachten.
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Ihr Song "Thoda Resham Lagta Hai" aus dem Film "Jyoti" (1981) liefert das Fundament für R&B-Sängerin Truth Hurts und ihr "Addictive" feat. Rakim (2002). Allerdings bedient sich Producer DJ Quik ungefragt am Hindi-Song, den er zufällig beim Fernsehen entdeckte. Der Copyright-Inhaber, das indische Musiklabel Saregama, fühlt sich bestohlen und klagt darauf Dr. Dre´s Label "Aftermath" auf astronomische 500.000.000 Dollar.
Mageshkars zweites Stück "Do Jhoot Jiye Ek Sach Ke Liye" aus dem Film "Do Jhoot" (1975) krallt sich Producer Madlib, der die andächtigen Streicher beschleunigt in ein neues rhythmisches Korsett presst. Der Beat erblickt das Licht der Öffentlichkeit als "Movie Finale" auf der Indien-Edition seiner Beat Konducta-Reihe (2007), findet seine Bestimmung aber in Mos Defs "Auditorium" (2009) featuring Storytelling-Onkel Slick Rick. Der britische Old-Schooler mit der Augenklappe erzählt vom Alltag eines schwarzen US-Soldaten im Irak, dessen beste Absichten ihn nicht davor schützen, dass die lokale Bevölkerung ihn als rücksichtslosen Ölräuber dämonisiert.
Weitere Episoden der "FM4 Excursions":
- Episode 1: Jazz
- Episode 2: Pop-Visionäre
- Episode 3: Jamaica
- Episode 4: Disco-Fever
- Episode 5: Soundtracks
Seine Geschichte liefert uns eine (kultur-)imperialistische Parabel, die auch auf das Sampling von Musik angewendet werden kann. Nämlich, wenn musikalische Wurzeln ungefragt ihrer Kultur entrissen werden und ohne Bedacht auf ihre Tradition neu kontextualisiert werden, etwa wenn Punjabi-Sounds gerade die Mode im HipHop-Sampling bestimmen.
Doch afroamerikanische Musikformen, ob nun Blues, Jazz, Soul, Funk oder HipHop, wissen davon unendlich viele Lieder zu singen. Ohne die kulturelle Aneignung schwarzer Musik durch den weißen Mainstream wäre HipHop heute nicht die weltweit Ton angebende Musikkultur. Der Popmusik würde der Groove fehlen. Und Trishes und ich hätten diesen Sommer wohl etwas weniger Spaß gehabt.
Den vollen Mix von Trishes könnt ihr bis kommenden Montag im FM4 Player anhören.
Hier die Playlist von "Excursions"- Episode 6:
Nas & Damien Marley | As We Enter |
Mulatu Astatke | Yegelle Tezeta |
K'Naan ft. Chali 2na & Mos Def | America (Nirobi Edit) |
Tlahoun Gèssèssè | Lantchi Biyé |
Common ft. DJ Premier | The Game |
Seyfu Yohannes | Tezeta |
Barış Manço | Gönül Dağı |
Guilty Simpson | Ode To The Ghetto |
Selda | Yaz Gazeteci Yaz |
Percee P | Reverse Pt. 2 |
Selda | Ince Ince (Bir Kar Yaga) |
Mos Def | Super Magic |
Barış Manço | Estergon Kalesi |
Madlib & Guilty Simpson | The Paper |
Eric B & Rakim | Paid In Full (Coldcut Remix) |
Ofra Haza | Im Nin'alu |
Assala | Meshet Senin |
A$AP Rocky ft. Kendrick Lamar, Joey Bada$$, Yelawolf, Danny Brown, Action Bronson & Big K.R.I.T. | 1 Train |
Lata Mageshkar | Thoda Resham Lagta Hai |
Truth Hurts ft. Rakim | So Addictive |
Erick Sermon ft. Redman | React |
Asha Bosle & Mohammed Rafi | Chandi Ka Badan |
Lata Mangeshkar | Do Jhoot Jiye Ek Sach Ke Liye (Sad) |
Mos Def ft. Slick Rick | Auditorium |