Erstellt am: 28. 7. 2016 - 19:29 Uhr
Wundersame Begegnung in bekannter Dimension
Weiterschauen
Sollte "Stranger Things" doch nichts für euch sein, findet ihr weitere Serienempfehlungen auf
Im ironisch-zynisch und gleichzeitig komplett ernst gemeint seinen Interpreten selbst sowie dessen Umfeld bespiegelnden Signature-Song "Losing My Edge" seines Projekts LCD Soundsystem spricht Mastermind James Murphy an prominenter Stelle von einer "borrowed nostalgia for the unremembered eighties".
Seit gut zwei Wochen ist die Mystery-Show "Stranger Things" der Serien-Talk der Stunde - zu weiten Teilen, weil sie ausgiebig und ausdrücklich das Nostalgie-Herz für die frühen 80er-Jahre zum Aufgehen bringt, den Retrosynthesizer bedient, aus dem Töne fließen, die nach VHS-Kassette und Rubikwürfel riechen. Man muss aber eben gar nicht dabei gewesen sein.
Netflix
Die acht Episoden lange, Mitte Juli via Netflix in einem Rutsch veröffentlichte erste Staffel von "Stranger Things" speist sich aus genauen Nachstellungen von und motivischen wie narrativen Verweisen auf Szenen, Einstellungen, Konstellationen aus Filmen – meist nicht gerade die unbekanntesten – der frühen bis mittleren 80er, bisweilen auch der späten 70er.
Ähnlich wie sich die Musik des LCD Soundsystems ostentativ und feierlich auf klar nachvollziehbare Referenzen aus einem relativ eng gesteckten Koordinaten-System – Brian Eno, Eno und Bowie, No-Wave-Funk, Postpunk, The Fall, Kraftwerk – beruft, die Songs der Band selbst aber oft den Status von bloßem Pastiche transzendieren, ist auch "Stranger Things" mehr als bloßes Flickwerk von Referenzen und ästhetische Fleißarbeit.
Gleich zu Beginn von Rob Reiners Film "Stand By Me" aus dem Jahr 1986 – einer der Schlüsselreferenzen für "Stranger Things" und ein Film, der selbst schon seinen Reiz aus den Freuden der Jugenderinnerung gewinnt – blickt die von Richard Dreyfuss dargestellte Hauptfigur selig in die eigene Vergangenheit und meint: "A long time ago – but only if you measure in terms of years."
Netflix
Matt und Ross Duffer, die Erfinder und Macher von "Stranger Things", die sich wenig schüchtern schon selbst zur Marke "The Duffer Brothers" stilsieren, gießen mit ihrer Serie dem großen und allmächtig durchwirkenden Vorbild Steven Spielberg eine liebevolle und genaue Hommage, nicht selten frame-genau, in der meist, nicht immer, das Strebertum hinter der kindlichen Begeisterung verschwindet.
"Stranger Things" setzt im Jahr 1983 ein, in einer Kleinstadt in Indiana, in der abenteuerlustige Kids auf ihren Fahrrädern die Welt erkunden und sich an ihren überdimensionierten Walkie-Talkies wie wissenshungrige Weltraumforscher fühlen. Bei Tageslicht, wenn es alles schön und idyllisch zu laufen scheint, spiegelt "Stranger Things" atmosphärisch die sonnendurchfluteten kalifornischen Suburbs aus Spielbergs "E.T.".
Wo sich in "E.T." zwischen Hauptfigur Elliott und dem außerirdischen Wesen eine besonders innige Freundschaft entwickelt, da erwächst in "Stranger Things" eine speziell enge Verbindung zwischen dem gerade an der Kippe zur Pubertät tänzelnden Mike (großartig: Finn Wolfhard) und einer ebenfalls Gestrandeten: einem jungen Mädchen, wie aus dem Nichts aufgetaucht, das so gut wie gar nicht spricht und aufgrund einer Nummer auf ihrem Arm schlicht "Eleven" oder "Elle" genannt wird. Verschreckt, kahl geschoren (als Verbeugung vor Charlize Theron in "Mad Max: Fury Road" und Sigourney Weaver in "Alien 3"), wie es scheint einem Labor und qualvollen Experimenten entkommen und mit telekinetischen Kräften ausgestattet.
Die Geschichte vom rätselhaften Mädchen ist mit den zunächst dominanten Hauptsträngen der Show verflochten: Das mysteriöse Verschwinden eines Burschen aus Mikes Brettspiel- und Science-Gang, die Existenz einer wohl alien-haften, wenig Gutes im Schilde führenden Kreatur.
Netflix
So hangelt sich "Stranger Things" anhand von Bildern, Plots, Lichterketten und flackernden Fernsehern lustvoll durch "E.T.", "Strange Encounters of the Third Kind", "Poltergeist" oder "Alien", und erweckt die gerade mal noch am Rande der Unschuld gelagerten Jugendabenteuer aus Filmen wie "The Goonies", "Explorers" oder eben "Stand By Me" zu neuem Leben.
"Stand by Me" beruht auf der Kurzgeschichte "The Body" von Stephen King – neben Spielberg der zweite Leuchtturm für "Stranger Things". Dass Kings weibliche Hauptfiguren aus "Carrie" und "Firestarter" mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten klare Vorlagen für die Figur der "Eleven" sind, und der Umstand, dass die Title Card von "Stranger Things" magisch dem Font von Kings "Needful Things" entlehnt scheint, sind da neben dem Kinderbande-auf-Mission-Motiv ("Stranger Things" wie "Stand By Me") nur zwei weitere Beispiele innerhalb eines Kleinstadt-Milieus, das vom Märchenhaften schnell in den Horror kippen kann. Ein Milieu, das wir ähnlich aus vielen Storys von Stephen King kennen.
Nun ist also auch die Titelmusik von "Stranger Things" standesgemäß – und gelungen – den minimalen Synth-Scores von John Carpenter und Tangerine Dream nachempfunden und enthält die Serie auch etliche weitere Verweise und Kuckuckseier, Anspielungen und direktes Namedropping in Richtung von beispielsweise "The Empire Strikes Back", "The Evil Dead" oder "Jaws".
Die Schnitzeljagd der Referenzen bereitet Freude, die exakt ausgemessene Erinnerungsarbeit ist Motor der Show – dennoch funktioniert "Stranger Things" nicht ausschließlich als Suchbild und als Selbstvergewisserung. Und schon gar nicht wie der Augenzwinker- und Schulterklopf-"Humor" der "Scary Movie"-Reihe, die sich ausschließlich darin genügt, gerade populäre Elemente ohne Dreh und Wendung wiedererkennbar auszustellen.
Während Mystery- und Spannungs-Appeal im Laufe von "Stranger Things" eher scherenschnitthaft flach bleiben und auch an Drive verlieren, liegt die wahre Stärke der Serie in ihrem Umgang mit Emotion, dem intermenschlichen Rangeln und Glühen zwischen ihren Charakteren.
Wiederum ähnlich wie bei Steven Spielberg sind auch hier Eltern-Kind-Beziehungen, deren Verlust und die Suche nach ihnen zentrales Motiv. Neben der tatsächlichen Suche nach dem verschwundenen Jungen verhandelt in "Stranger Things" die Erzählebene der Kinder – ohne Zweifel die interessanteste der Show – die guten, alten Geschichten von Freundschaft, Vertrauen, Identitätsfindung, der Etablierung höchsteigener Codes und dem vagen Erwachen erster romantischer Vermutungen.
Auf der Ebene der Erwachsenen – Winona Ryder als mal funkelnde, mal demonstrativ overacting Mutter, David Harbour als leicht mürrischer, aber goldherziger, vom Leben gebeutelter und getretener Polizeichef – hat schon die Vergangenheit ihre Schatten hinterlassen: Verflossene und verlorene Lieben, Schicksalsschläge, die Frustrationen.
Der Zwischenbau der Erzählebene der Teenager orientiert sich an klassischen Highschool- und Collegefilmen, vor allem dem prägenden Werk von John Hughes: "Breakfast Club", "Sixteen Candles", "Pretty in Pink" – aber auch beispielsweise an "Risky Business" mit dem jungschnöseligen Tom Cruise. So stellt auch "Stranger Things" die Fragen: Wohnt in dem Jock vielleicht doch eine weiche Seele? Ist der Creep vielleicht doch gar nicht so creepy? Transformation, Typen-Überwindung.
Netflix
Dass das alles in "Stranger Things" nicht einzig Schaulauf und schlaue Schablone bleibt, liegt zu überragendem Maße am Ensemble, wiederum allen voran der Gang der Kids: Wie die Schauspieler Finn Wolfhard, Gaten Matarazzo und Caleb McLaughlin spätkindliche Euphorie, Unsicherheiten, Zweifel und – oftmals auch auf die Probe gestellte – Unity verkörpern, wärmt die Luft mit Glückseligkeit.
Mit der Performance der englischen Schauspielerin Millie Bobby Brown in der Rolle der "Eleven" erleben wir in "Stranger Things" wohl kaum weniger als die Ankunft eines kommenden Superstars. Nahezu ohne Worte bewegen sich in Elevens Gesicht Welten. Wir sehen: Angst, Ratlosigkeit, Zorn. Ein leises Hochziehen eines Mundwinkels, die schwache Ahnung einer ersten Freude nach langer, langer Zeit. Ein seltsam neues Gefühl der Zuneigung, das uns noch unerklärlich ist, von dem wir aber wissen, dass es mehr als nur "Friend" bedeutet.