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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

27. 7. 2016 - 14:42

Virtuelle Köder

Mein Freund Krum verlässt eigentlich nie seine Wohnung. Aber jetzt hat er begonnen Pokémon Go zu spielen und schon ist sein Gesicht gar nicht mehr so bleich.

Mit Akzent

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Mein Freund Krum lebt in einer virtuellen Welt. Er verlässt sein dunkles Zimmer mehrere Wochen lang nicht. Täglich kämpft Krum mit imaginären Windmühlen der Videospiele. Da er die ganze Zeit zuhause bleibt und nur Fast Food isst, ist Krum 100 Kilo schwer geworden. Ich und Krums andere Bekannte haben alles versucht, um ihn aus dem Haus zu locken. Doch alles ist vergeblich. Es helfen keine Partyeinladungen, denn die kalten Biere und die Möglichkeiten interessante Mädchen zu treffen interessieren Krum überhaupt nicht.

Bis vor einigen Tagen, als ich Krum im Stadtpark getroffen habe. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Mit der einen Hand schob er ein Fahrrad, mit der anderen zielte er mit seinem Smartphone ins Nichts. Alle paar Schritte hielt er an und wiederholte die Übung. Dann habe ich verstanden was Krum macht - er war auf Pokémonjagd. Er hatte den gleichen abwesenden Gesichtsausdruck wie in seinem dunklen Zimmer, wo er vergraben in Pizzakartons die Horden eines virtuellen Bösewichts bekämpfte. Doch etwas hat sich bei ihm verändert. Sein bleiches Gesicht schien mehr Farbe zu haben. Eigentlich hatte er fast den Taint von einem, der Bier auf Musikfestivals verkauft.

pokemon go

CC BY-SA 2.0, Virginia State Parks on Flickr

Ein anderer Freund von mir, der gerade mit mir unterwegs war, fing an, Krum zu beklagen. Laut ihm sei Krum noch tiefer gefallen, da die Pokémons einen erheblichen Teil seiner Weltverschwörungstheorie ausmachen. Sie seien noch eine weitere Möglichkeit vom Big Brother beobachtet zu werden. Jede Ecke unserer Zimmer werde kartographiert und von den Pokémons, die eigentlich NSA-Agenten seien, beobachtet. Somit würde Big Brother wissen, was wir essen, was wir trinken und mit wem wir schlafen.

Ich erwiderte, dass das Big Brother eh schon längst alles weiß, da die Menschen sowieso schon freiwillig ihr Mittagessen, ihre Urlaubsliege oder die vollen Gläser auf einer Party fotografieren und in den sozialen Netzwerken publizieren. Und was würde Big Brother über Krum wohl durch die Pokémon-Agenten erfahren? Dass seine dreckigen Socken seit zwei Wochen unter seinem Bett liegen?

In dieser Zeit bestieg Krum, der uns und unser Gespräch nicht bemerkt hatte, sein Fahrrad und verschwand, während er versuchte gleichzeitig Rad zu fahren und auf seinen Smartphone zu schauen. So seltsam es mir vorkam, hat ihn ein Videospiel aus seinem Zimmer hinausgelockt. Ich hoffe nur er schaut sich auf Straßenkreuzungen um.