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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

25. 7. 2016 - 16:28

Einzeltäter? Terrorist? Geisteskranker?

In den Berichten rund um verschiedene Attentate und Terroranschläge hat man in den letzten Tagen und Wochen oft nicht gewusst, wie man die Täter einordnen soll. Ein Gespräch mit der forensischen Psychiaterin und Gerichtsgutachterin Heidi Kastner.

Innerhalb einer Woche hat es drei Bluttaten in Bayern gegeben: Zuerst ein Flüchtling, der in einem Zug mit Axt und Messer auf Mitreisende losgegangen ist, dann der Amoklauf in München. Und gestern hat ein junger Flüchtling in der Nähe eines Konzertes in Ansbach eine Bombe gezündet. Bei allen drei Taten hat die Berichterstattung - wie auch schon beim Anschlag in Nizza - geschwankt zwischen einer Zuordnung zu einem islamistischen Hintergrund und einem Amoklauf.

Wie sind solche Taten einzuordnen? Und warum suchen wir immer so verzweifelt nach psychologischen Erklärungsmustern? Ein Gespräch mit der forensischen Psychiaterin und Gerichtsgutachterin Heidi Kastner.

Heidi Kastner

ROBERT JAEGER/APA-POOL

Heidi Kastner

Letzte Woche ist ein jugendlicher Flüchtling mit einer Axt auf Mitfahrende losgegangen – man hat eine IS-Flagge und Bekennerschreiben gefunden, das reichte der Öffentlichkeit als Erklärung. Wenige Tage zuvor hat ein Schwarzer in den USA Polizisten erschossen. Hier wurde stark über seine Vorgeschichte als Soldat und mögliche Traumata gesprochen. Warum interessieren beim Flüchtling die Traumata weniger, und beim ehemaligen Soldaten schon?

Das ist eine interessante Frage. Ich denke, weil die Schublade eine andere ist. Die Schublade „IS“ und „Terrorist“ ist eine, die man auf- und zumacht und damit erübrigen sich alle Erklärungen. Denn derzeit jagt ja eine Meldung die andere. Wer hat denn da noch Zeit, dass er sich wirklich in der Tiefe mit irgendetwas auseinandersetzt? Und wer will das noch? Also sind kurze, schlichte Erklärungen gefragt. Und wenn die Erklärung IS da ist, dann ist das abgehakt. Da braucht man nicht weiter schauen.

Bei westlichen Tätern können wir das Umfeld befragen, und uns vorstellen wie die leben. In Afghanistan schon weniger. Neigen wir da auch dazu, Menschen aufgrund der Herkunft unterschiedlich zu sehen?

Ich denke, wenn der westliche Täter vermeldet hätte, er steht im Kontakt mit dem IS, dann hätte man das genauso schnell abgehakt und seine Militärvergangenheit wäre genauso wenig Thema gewesen.

Interessant war es bei dem Attentäter, der in Nizza mit dem LKW in die Menschenmenge gefahren ist: da wusste man ganz lange nicht, ob er ein Terrorist war oder ein Amokläufer, also aus persönlichen Motiven gehandelt hat. Deswegen hat die Einordnung mehrmals hin- und hergeschwankt. Wie haben Sie die Berichterstattung beobachtet?

Man versucht so einen Vorfall in eine Schublade zu schieben und wechselt zwischen IS und Amoklauf. Wobei das eine einen Modus Operandi bezeichnet und das andere einen motivationalen Hintergrund. Das eine schließt das andere ja nicht aus. Das eine betrifft die motivationale Grundlage und das andere betrifft den Modus des Ablaufs. Es kann ein IS-motiviertes Mehrfachtötungsdelikt vom Ablauf her einem Amoklauf entsprechen. Der hat halt dann als Begründung nicht die Kränkung in der Schule sondern die Kränkung durch die Gesellschaft. Die Motivlage kann beim Amoklauf ja unterschiedlich sein. Ich denke in diesem Zusammenhang, wir erweisen dem IS einen Bärendienst, wenn man diese mehr oder weniger hanebüchenen IS-Verbindungen gleich als solche medial vermarktet. Denn wenn ich jetzt in der Position der IS wäre – und ich habe ja eine lange Erfahrung damit, mich in die Position der Bösen zu versetzen – dann würde ich mir alles unter den Nagel reißen, was weltweit an Bösem passiert. Denn die, die tot sind, können eh nichts mehr sagen. Wenn das Ziel ist, möglichst viel Angst zu verbreiten, dann nehme ich doch alles, was ich frei Haus geliefert bekomme, und schreibe es mir auf die Fahnen.

Das ist ja der Vorwurf, dass man mit dieser Zuschreibung dem IS vielmehr Macht zugesteht, als der eigentlich hat!

Man liefert denen die Möglichkeit, sich alles, was da von mehr oder weniger Verwirrten aber mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht in irgendwelchen organisierten IS-Kommandostrukturen getan wird, als Leistung des IS zu werten. Ich glaube nicht, dass der Zug-Mensch in irgendwelche IS-Strukturen eingebunden war! Der hat sich in der Pflegefamilie, wo er offenbar unauffällig war, am Computer pseudoradikalisiert. Aber er war nicht Teil eines von langer Hand geplanten IS-Anschlags. Und wenn der jetzt auf unbeholfene Art im Zug auf andere losgeht, ist das erschreckend, weil in einem Zug sitzt man selbst auch mal schnell. Und die IS kann sagen: Wir sind überall! Fürchtet euch!

Was bringt überhaupt diese Psychologisierung von Massenmördern? Dass man z.b. ihre familiäre Vorgeschichte durchleuchtet etc.?

Das weiß ich auch nicht. Es ist wohl ein urmenschliches Bedürfnis, Dinge verstehen zu wollen. Weil wir mit der vermeintlichen Nachvollziehbarkeit der Ursachen nicht so intensiv das Gefühl des Ausgeliefertseins haben. Wenn wir uns etwas erklären können, ist es besser erträglich, als wenn wir sagen müssen: ‚Shit happens und wir wissen nicht, wann, warum und wem.‘ Das ist schwerer erträglich, als sagen zu können: Da hat einer versagt. Damit vermittle ich das Gefühl, dass die Welt immer logisch ableitbar ist und bei entsprechender Vorsicht kann man furchtbare Dinge verhindern. Wenn ich sage: "Ich kann gar nichts ableiten, das passiert einfach, weil es passiert, manchmal entstehen Situationen aus sich selbst", dann macht mich das ja ausgelieferter und unsicherer.

Kann so etwas überhaupt ausreichende Erklärungen liefern? Es gibt ja genügend Menschen die auch z.b. eine schlimme Kindheit erleben - und trotzdem nicht hunderte Menschen umbringen. Ich habe zum Beispiel gerade ein dickes Buch über Anders Breivik gelesen, wo dessen Kindheit genau beleuchtet wird.

Im Buch "Einer von uns" wird unter anderem Breivik Vorgeschichte beleuchtet.

Es gab bei seiner Anklage mehrere psychiatrische Gutachten über Anders Behring Breivik - das erste ging von paranoider Schizophrenie aus, ein zweites von einer narzisttischen Persönlichkeitsstörung. Breivik wurde im Endeffekt vom Gericht als zurechnungsfähig erklärt.

Ich bin - für mich - absolut davon überzeugt das Herr Breivik krank ist, dass er an einer Schizophrenie leidet. Und Krankheiten betreffen Menschen ohne Grund, das ist schlichtweg Pech. Und da kann man schon gar nichts erklären und logisch ableiten, weil Krankheiten sich ihre Opfer nicht aussuchen. Auch sonst kommt man mit der vermeintlichen Erklärbarkeit der Psychodynamik immer nur an einen gewissen Punkt. Die letztendliche Entscheidung zu einer solchen Tat ist nie erklärbar! Man kann die böse Tat nie bis in die letzte Faser hinein sezieren und kausal zuordnen. Das ist absolut unmöglich. Das ist auch mit dem Begriff der Handlungsfreiheit gemeint: es gibt immer noch einen letzten Rest, wo der Menschen nicht durch seine Komponenten und durch seine Umweltfaktoren vorbestimmt ist, sondern wo er sich entscheiden kann, was er tut! Und man kann nie erklären, warum jemand sich letztendlich genau so und nicht anders entschieden hat. Im besten Fall kann ich ableiten, warum das für ihn eine Handlungsoption gewesen sein mag. Das auch nur bedingt bei Leuten, die sich im Rahmen ihrer Handlungen umbringen oder umbringen lassen, weil da kann ich ihn nicht mal selber fragen. Und selbst wenn ich mit ihm spreche, komme ich nur bis zu einem gewissen Punkt. Dass ich sage: Der hat halt eine Rage auf die Welt aufgebaut, die ihn nicht achtet etc. das ist ja mehr oder weniger Copy-Paste was man in so ein Gutachten hineinschreiben kann. Es sind immer die Gekränkten, die sozialen Verlierer, die sich nicht entsprechend wahrgenommen fühlen. Dann bauen sie eine Wut auf die Gesellschaft auf und treten in Opposition. Und aus dem nehmen sie die Berechtigung, die Gesellschaft, die sie missachtet, selbst zu bestrafen. Dann finden sie vielleicht noch den ideologischen Überbau und haben noch mehr Rechtfertigung für das, was ihnen eigentlich eh schon aufgrund der eigenen Biografie naheliegt. So habe ich ein klassisches Erklärungsmuster, dass ich bei jedem terroristischen Attentäter heranziehen kann.
Was ich nicht erklären kann: Warum gibt es dann aber soundso viele, die genauso soziale Verlierer sind, und nichts tun?

Es gibt auch den Vorwurf an die Medien, man tue den Tätern einen Gefallen, wenn man sie in den Mittelpunkt der Berichterstattung stellt. Sollte man die Täter gar nicht erwähnen?

Man sollte die Namen nicht nennen, denn es ist kein Grund für Berühmtheit, dass man ein paar Menschen erschossen hat. UND man sollte nicht jedem noch so hanebüchenen Verdacht auf IS-Urheberschaft medial nachgehen. Wenn man den als verwirrten Jugendlichen hinstellt stimmt das genauso – man soll ja nichts Falsches schreiben! Aber das lässt die Gratifikation für ihn und für die IS hintan.

Immer wieder wurde auch gesagt, man solle nicht von einem Islamisten-Problem sprechen, sondern von einem Männerproblem. Alle diese Täter, egal welcher Ideologie sie angehören oder was sie zu rächen glauben, sind Männer. Woran liegt das?

Man sollte nicht von einem Männerproblem sprechen. Alles, was das in irgendein Eck schiebt, negiert einen Teil der Realität. Es gibt außerdem auch Frauen, die sich einen Sprengstoffgürtel umschnallen und die Luft sprengen. Es ist kein reines Männer-Problem, und es ist kein reines Ideologieproblem. Es ist eine überwiegend männliche Thematik, wie die meisten Aggressionsdelikte männliche Themen sind. Und das ist eine Frage unserer biologischen Grundausstattung und der Erziehung. Seit Jahrtausenden sind junge Männer in Kriege gezogen, und haben dort Mut, Stärke und Waghalsigkeit erprobt. Das ist ein kulturell tradiertes und entsprechend verankertes Verhalten. Es haben sich doch immer Männer freiwillig für Kriege gemeldet, jetzt rennen sie halt zum IS.

Was da auch angesprochen ist, ist die Kränkung der Männlichkeit und das Wieder-Herstellen oder Rächen derselben. Männlichkeit muss vielleicht eher über Aggression und Gewalt bewiesen werden als Weiblichkeit?

Männer neigen dazu ihre Stärke zu erproben, das ist das gleiche wie Wirtshausraufereien. Das ist ein normaler Teil in der Entwicklung eines jungen Mannes. Bei uns ist halt mittlerweile sehr sublimiert über Sport oder sonstiges. Aber das ist ein normaler Entwicklungsschritt und das, was noch am ehesten biologisch männlich ist.