Standort: fm4.ORF.at / Meldung: ""Wir leben in einer Zeit der Utopie""

Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

25. 7. 2016 - 17:40

"Wir leben in einer Zeit der Utopie"

"Im Schweiße deiner Titten sollst du essen", diesen Satz stellt Fiston Mwanza Mujila seinem gefeierten Debütroman "Tram 83" voran. Ein Interview über das Leben in zwei Heimatstädten.

Interviews mit AutorInnen und Buchempfehlungen auf fm4.orf.at/buch

Schon bei einer seiner allerersten Lesungen in Graz erregten seine Gemüsemetaphern für weibliche Brüste Aufmerksamkeit. So ganz konnte das niemand einordnen. Von "Fleischtomatentitten" ist auch in "Tram 83" zu lesen, die Hauptcharaktere sind drei Männer und von Korruptheit über Folter zu Jazzmusik und einer Diva kommt alles zusammen in diesem Buch.

Der Roman "Tram 83" begeistert KritikerInnen von Australien bis Belgien, ist inzwischen in knapp ein Dutzend Sprachen übersetzt und sein Autor Fiston Mwanza Mujila, der Sohn eines kongolesischen Buchhändlers, liest in den USA wie in Schweden und Italien.

"Tram 83" ist eine fiktive Bar in Lubumbashi, der zweitgrößten Stadt Kongos. Die Welt zeigt sich hier als Mikrokosmos, die Gäste kommen aus allen Gesellschaftsschichten. Sie sind Minenarbeiter, die nach Coltan schürfen, Geschäftsmänner, TouristInnen und Prostituierte. Viele gieren nach Sex, zu viele wollen Geld machen. "Tram 83" ist auch der Titel des Romandebüts von Fiston Mwanza Mujila. Schwül, aufgeladen und pulsierend ist die Atmosphäre des Romans, besonders ist die rhythmisierte Sprache.

Das Cover zu "Tram 83" hat ein dreieckiges Muster

Paul Zsolnay Verlag Wien

Fiston Mwanza Mujila: Tram 83. Übersetzt aus dem Französischen von Katharina Mexer und Lena Müller. Paul Zsolnay Verlag 2016.

Jetzt ist der Roman in deutscher Übersetzung erschienen.
Fiston Mwanza Mujila kam 2009 für sein Stipendium als Stadtschreiber nach Graz. Wie ist es gekommen, dass er hier geblieben ist? Er reise viel, nach Frankreich, Belgien und Amerika. "Aber ich brauchte eine zweite Heimat, eine zweite Heimatstadt. Weil der Kongo ist so weit und Graz war da, also habe ich gesagt: Ich bleibe in Graz. Es war wichtig, eine neue Erinnerung hier in Graz zu entwickeln."

Deine erste Heimatstadt ist der Handlungsort deines Debütromans. "Tram 83" spielt in Lubumbashi und ist bereits in viele Sprachen übersetzt worden.

Hineinlesen in "Tram 83" kann man hier

Fiston Mwanza Mujila: Die Geschichte von Tram kann überall passieren, im Kongo oder irgendwo in Europa. Denn es geht um eine kleine Stadt, die ein Land geworden ist, in das viele Leute von überall kommen. Sie suchen Geld. Tagsüber suchen sie Coltan und Diamanten in den Minen, am Abend gehen sie in eine Bar, um zu saufen. Es geht um Musik, um Bier, um Literatur, um Kriege - um viele verschiedene kleine Sachen. Mir war es ein Anliegen, einen Roman über die Menschlichkeit zu schreiben. Die Welt ist wie ein kleines Dorf. Mein Roman ist ein Versuch, die Welt durch Literatur zu verstehen.

Kennst du diese Welt der Minenarbeiter aus deinem Leben in der Demokratischen Republik Kongo?

Ja. Ich bin im Süden, in Lubumbashi geboren. Lubumbashi ist eine Minenstadt. In der Kolonialzeit brauchte Belgien Männer, die im Süden arbeiteten, sie suchten überall in Afrika nach Minenarbeitern. Viele Leute in Lubumbashi haben mit der Arbeit in Minen zu tun. Die Realität von Minen ist aber eine Realität der ganzen Welt: Es gibt das gleiche Problem in Angola oder vor Jahren auch in Frankreich. Für mich war es wichtig, mit dieser kongolesische Realität etwas über die Welt zu erzählen.

Coltan ist in unseren Smartphones. Wir halten es täglich in unseren Händen.

Mit Kongo bezieht sich Fiston Mwanza Mujila auf die Demokratische Republik Kongo. Die alles andere als eine demokratische Republik ist.

Deshalb ist der Kongo kein Land mehr. Um ein Telefon, Smartphones oder Computer herzustellen, braucht man dieses Coltan. Achtzig Prozent davon kommen aus dem Kongo. Deshalb gibt es einen ewigen Krieg im Kongo und Coltan bekommt man fast gratis.

Weiterlesen:
"Kongo. Eine Geschichte" - Rainer Springenschmid stellt David van Reybroucks großes Buch vor

Es ist 2016 und in vielen Ländern gibt es noch immer Kinderarbeit. In unserer Welt passieren viele schlimme Sachen. Aber "Tram 83" ist keine Dissertation oder Diplomarbeit! Es ist ein Roman. Das Buch hat viel mit der Realität zu tun, es ist aber Fiktion. Es ist eine Utopie, weil unsere Welt heute eine große Utopie ist. Wir leben in einer Zeit der Utopie.

Fiston Mwanza Mujila am Grazer Mariahilferplatz, hinter ihm sieht man den Schloßberg, auf dem Fiston ein Jahr als Stadtschreiber im Cerrini Schlössl gelebt hat

Maria Motter

Fiston Mwanza Mujila

Fiston Mwanza Mujila liest am Donnerstag, 4. August 2016, 20.00 Uhr, auf der ORF Hör- und Seebühne in Graz. Eintritt frei

Bei deinen Auftritten erlebt man deine Sprache als sehr rhythmisch, fast singend. Es ist toll, dir zuzuhören. Wie ist es dir mit diesem längeren Text, deinem Roman, gegangen? Wie schreibst du? Sprichst du dir den Text vor?

Ich habe den Text wie ein Jazzkonzert komponiert. Das heißt es gibt Solos - Saxophon, Oboe, Bass und Klarinette. Und es gibt Zeiten, in denen alle Instrumente spielen. Ich habe den Text laut vorgetragen. Es war wichtig, einen Rhythmus zu bekommen. Ich finde, Literatur ist fröhlich. Wenn ich schreibe, bin ich froh. Ich kann immer schreiben, wenn ich glücklich bin! Ich wollte einen glücklichen Roman schreiben.

Oh das ist sehr schön. Viele AutorInnen sagen ja, sie schreiben besonders dann, wenn es ihnen nicht so gut geht.

Die Welt ist schon kaputt. Wenn man die Möglichkeit hat, etwas Schönes durch Literatur zu machen, dann muss man es machen. Ich sehe die Welt immer in Grün. Literatur ist für mich die Möglichkeit, von einer anderen Welt zu träumen, vielleicht von einer besseren Welt.

KritikerInnen von Australien bis Belgien schwärmen von "Tram 83". Was hast du als Nächstes vor?

Ich habe begonnen, an meinem zweiten Roman zu arbeiten. Aber es ist nicht leicht, weil ich mit allen ÜbersetzerInnen von "Tram 83" im Austausch gewesen bin. Ich schreibe auch oft an zwei, drei Texten parallel. Für uniT in Graz habe ich ein Stück geschrieben, ein ganz frischer Lyrikband ist im Juni in Belgien erschienen. Es wird viel passieren.

Schreibst du mittlerweile auch auf Deutsch?

Ich versuche es, weil ich in Österreich lebe und die Sprache mag. Mein Leben ist auch eine Reise durch Kultur, durch Geografie, durch Sprachen, denn ich spreche mehr als fünf Sprachen. Die Literatur hat keine Grenzen, der Mensch hat keine Grenzen. Die Menschlichkeit hat keine Grenzen. Das Wichtigste ist, zu wissen, woher ich komme - aus dem Kongo - und wohin ich gehe - ich bin in Graz - und alle Einflüsse und die Diversität zu genießen. Ich komme aus einer französisch-afrikanischen Kultur und jetzt lebe ich in einer deutschsprachigen Kultur. Das ist für mich spannend.

Du bist ein gebürtiger Afrikaner, wenn man das so groß fasst, und lebst jetzt in Europa. Wie siehst du die aktuellen, auch politischen Entwicklungen? Es gibt ja sehr, sehr viele Menschen aus afrikanischen Ländern, die in ein anderes Land wollen und ein anderes Leben für sich erhoffen und möchten.

Viele Geschichten hat auch der kommende Grazer Stadtschreiber zu erzählen: Der gebürtige Iraker Autor und Journalist Najem Wali wird ab Herbst im Cerrini-Schlössel am Schloßberg leben und arbeiten.

Ich finde, die Welt muss offen sein, wenn jemand irgendwo hingehen will. Das ist kein Problem. Aber es gibt europäische Länder, die Diktaturen in afrikanischen Ländern unterstützen. Die Leute gehen, weil es Kriege usw. gibt. Das erste Problem ist: Wir als Afrikaner müssen unsere Länder und unseren Kontinent verbessern. Afrika hat 54 Länder. Ich glaube, es sind nur vier oder fünf Länder, in denen es viele Probleme gibt. Kongo, Somalia usw. In den meisten afrikanischen Ländern ist das Leben relativ gut. Wenn jemand geht, geht er nicht aus Spaß. Die Flüchtlingsfrage ist eine politische Frage, aber es ist auch eine menschliche Frage. Wie können wir als Menschen versuchen, unsere Welt zu verbessern? Wir leben im Jahr 2016. Ich verstehe nicht: Die Leute sagen, wir leben in einer neuen Welt, wir sind intelligent, wir haben Bildung usw. Aber warum gibt es Kriege und warum müssen Kinder arbeiten? Es gibt heute neue Sklaven. Es ist eine Weltfrage, aber es ist auch eine persönliche und soziale Frage. Was kann ich als Fiston machen? Die Lösung kommt von mir, von dir, von uns allen in den Gesellschaften. Es gibt nicht eine Lösung. Es gibt mehrere Lösungen. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: Give a man a fish, and you feed him for a day. Teach a man to fish, and you feed him for a lifetime. Wie können Leute nach zwei Jahren in Österreich selbstständig sein? Es passiert viel an Unterstützung in Österreich und das ist wichtig.

Verfolgst du das politische Geschehen im Kongo?

Ja. Und ich interessiere mich für österreichische Politik. Was passiert in Syrien und im Irak? Man muss sich als Mensch für Politik interessieren. Unsere Augen müssen offen sein, unsere Ohren müssen verstehen. Und was kann ich als Mensch jetzt machen? Was kann ich heute für Graz, für den Kongo tun? Als ich Stadtschreiber war, habe ich mit Insaßen der Justitzanstalt Graz-Karlau Schreibworkshops gemacht. Im Kongo mache ich viele Workshops für junge Schriftsteller. Ich muss nicht auf die Regierung warten.