Erstellt am: 24. 7. 2016 - 12:43 Uhr
#Muenchen
Von Sophia Hoffmann
Freitag Abend, 19.12 Uhr. Ich döse. Mein Handy piept. Ein Bekannter aus Berlin schreibt mir: „Bist du okay? Bleib bitte zuhause!“.
Müde von zwei anstrengenden Arbeitstagen schreibe ich zurück: „Alles gut, ich liege rum, esse, schlafe...“. Ich schließe die Augen, dann: „Moment, wieso soll es mir nicht gut gehen? Ist irgendwas passiert?“
Im Internet lese ich etwas von einer Schießerei im OEZ.
Dem Olympia Einkaufszentrum. Fünf Kilometer Luftlinie von meiner Wohnung. Erst jetzt höre ich die Sirenen draußen. Es sind ziemlich viele und sie heulen ununterbrochen.
![© Sophia Hoffmann Sophia Hoffmann](../../v2static/storyimages/site/fm4/20160729/hoffmann-2_body_small.png)
Sophia Hoffmann
Meine Gastgeber und ich treffen uns vor dem Fernseher. Die Meldungen überschlagen sich. Da ist die Rede von mehreren Anschlägen im Münchner Stadtgebiet, Attentätern, dutzenden Toten, Terrorverdacht.
Wir versuchen uns gegenseitig zu beruhigen, zum Glück sind wir alle rational und nicht Panik-anfällig. Wir versuchen das, was an Informationsbrocken herein kommt, zu analysieren. Das OEZ ist ein wenig schickes Einkaufszentrum fernab der reichen Münchner Innenstadt, in dem vor allem Teenager abhängen. In einer sozial schwachen Wohngegend mit hohem Ausländeranteil. In unseren Augen nicht so erste Wahl für einen terroristischen Anschlag. Klingt nach Einzeltäter.
Trotzdem gibt es noch immer Gerüchte von mehreren Tätern und Anschlägen an anderen öffentlichen Plätzen. Telefone fangen an zu klingeln. Die Eltern. „Ja, alles okay, ja wir schauen auch Nachrichten.“ Freunde, die sich entweder noch in der Arbeit befinden oder auf dem Tollwood, einem großen Festival mit tausenden Leuten. Dort herrscht leichte Panik, Angst, Angriffsziel zu werden. Wir beruhigen sie, sagen, sie sollen einfach mal dort bleiben, alles wird gut.
Eine andere Freundin scherzt „Dann bleibe ich einfach im Büro, hab eh noch viel zu tun!“.
Der öffentliche Nahverkehr ist komplett eingestellt worden. Der Hauptbahnhof wird evakuiert. In der Wohnung sitzend schwanken wir zwischen „ist das jetzt nicht alles ein bisschen übertrieben?“ und „vielleicht ist es ja doch alles schlimmer als wir denken?“. Hubschrauber kreisen.
Doch Angst haben wir komischerweise nicht. Mein Gastgeber beschließt, trotz der Anweisung der Polizei zuhause zu bleiben, noch schnell in den Supermarkt zu gehen und Snacks und Getränke zu holen, es könnte eine lange Nacht vorm Fernseher werden. Ein paar Minuten später kommt er zurück. Der Supermarkt ist auch geschlossen! Die Stadt menschenleer. Krass.
Spekulations-Zirkus deluxe
Ich bin in München geboren und aufgewachsen, gerade zu Besuch da und immer habe ich mich in dieser Stadt sehr sicher gefühlt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass mir hier etwas passiert. Meine Gastgeberin sagt: „Schau mal auf den Twitter-Account der Münchner Polizei, die sind top!“ Und sie hat Recht. In den nächsten Stunden werde ich auf diesem Account noch sehr oft auf „aktualisieren“ drücken, er ist mein helles Licht im Dunkel der spekulativen TV-Berichterstattung.
Die Münchner Polizei zeigt an diesem Abend wie moderne, gute Polizeiarbeit aussieht. Sie twittert Updates in Deutsch, Englisch, Französisch und Türkisch und bittet in mehreren Sprachen ausdrücklich keine Fotos und Videos der Tat/Täter/Opfer zu teilen, sondern richtet im Laufe der Nacht eine Upload-Plattform ein, um diese als Beweismaterial an die Ermittler weiterleiten zu können.
Leider halten sich selbst die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen auf ARD und ZDF nicht an diese Anweisungen und schon bald laufen in Endlosschleife die ersten Videos und man wird das Gefühl nicht los bei Fox News gelandet zu sein. Die ARD zeigt sogar ein Handyvideo, auf dem abgedeckte Leichen vor dem OEZ zu sehen sind. Ist das wirklich notwendig? Ich werde das Gefühl nicht los, als ginge es in den nächsten Stunden ganz dringend darum die Sondersendung mit Content zu füllen, solange es noch keine konkreten Meldungen gibt. Spekulations-Zirkus deluxe.
![© APA/AFP/STR Schießerei in München](../../v2static/storyimages/site/fm4/20160729/muenchen-6_body.jpg)
APA/AFP/STR
Wir switchen zwischen ARD, ZDF und RTL und an allen Ecken werden alle verfügbaren Menschen vor die Kamera gezerrt, deren Prädikat manchmal einfach nur ist, dass sie sich auch gerade in München aufhalten. Wir erfahren so, dass das Stadtteil-Sommerfest unmittelbar neben unserem Haus vor zwei Stunden durch eine schwer bewaffnete Sondereinheit beendet wurde. Klar, wir wohnen direkt an der U-Bahnlinie zum OEZ, wahrscheinlich besteht Gefahr, dass der oder die Täter mit der U-Bahn geflüchtet sind. Wir haben immer noch keine Angst.
Aber vorsichtshalber markieren wir uns auf Facebook als sicher. Das scheint vor allem unsere Freunde in anderen Städten zu beruhigen, sie liken das und schreiben dutzendfach „pass auf dich auf“, wir fühlen uns mehr so „ja, ist ja gut...“.
Polizei-Pressesprecher mit Star-Potential
Es gibt eine erste Pressekonferenz der Münchner Polizei und sofort wird klar, wer der heimliche Star dieser Nacht ist: Der Pressesprecher Marcus da Gloria Martins. Auch auf die nervigsten und unsinnigsten Fragen der Pressevertreter reagiert er gelassen: „Dazu kann ich ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts sagen, das wäre reine Spekulation.“
Sofort richten ihm „Fans“ eine Facebook-Seite ein, die zum jetzigen Zeitpunkt bereits fast 50.000 Likes hat. Ein schlauer Mann, der sokratisch die Massen beruhigt und so Panik verhindert. Erschreckend, dass jemand sofort zum Helden stilisiert wird, weil er in einem Haufen komplett durchdrehender Menschen einfach nur cool bleibt. Der Polizist, dein Freund und Helfer.
Danke für Euren positiven Zuspruch in unzähligen Kommentaren. Seid gewiss, dass die eingesetzten Polizisten sich sehr darüber freuen.
— Polizei München (@PolizeiMuenchen) 23. Juli 2016
Derweil krallt der ARD-Moderator Thomas Roth sich schon etwas müde an sein Pult, während der erste Terrorismus-Experte im Studio anfängt zu dozieren. Auch wenn die Polizei sagt „reine Spekulation“ - die Terrorismus-Expertise läuft auf Hochtouren.
Es sind immer noch Sirenen zu hören, auch Hubschrauber kreisen, doch mittlerweile wissen wir, dass die angeblichen anderen Schauplätze mit Tätern wohl nur bis auf die Zähne bewaffnete Zivilpolizisten waren, deren Bild die ahnungslosen Bürger in Zeiten wie diesen schnell ausflippen ließ und so muss die Polizei erst den hunderten eingehenden Hilferufen nachgehen, bevor sie Entwarnung geben kann.
Während sich die halbe Weltbevölkerung quasi schon sicher ist, dass nun auch die Weltstadt mit Herz das Opfer eines Terroranschlags geworden ist (Hillary hat getwittert, Obama ein Statement abgeliefert, selbst Boris Johnson irgendwas gestottert), kursiert im Internet ein dubioses Video, das kurz danach natürlich auch im Fernsehen läuft, obwohl die Echtheit völlig unklar ist. Es zeigt den angeblichen Täter auf dem Dach eines Packhauses herumirren, wie er von einem Urmünchner mit rassistischen Tendenzen angebrüllt wird. Wäre nicht alles so schlimm, man müsste lachen.
Der Typ aus dem Off beschimpft den Mann als Kanaken, dieser wehrt sich: „Ich bin Deutscher, ich bin in psychiatrischer Behandlung...“ - darauf der andere zurück „A Wichser bist, a Oarschloch...!“.
Sollte dieses Video echt sein, ist auf jeden Fall schon mal klar, dass hier nicht der IS agiert.
Langsam werden wir der Nachrichten müde. Um etwa 1 Uhr twittert die Polizei, dass ein Toter gefunden wurde bei dem es sich wahrscheinlich um einen der Täter handelt. Kurz danach kommt die Meldung, dass für 2 Uhr eine weitere Pressekonferenz angesetzt ist. Dann heißt es, dass die öffentlichen Verkehrsmittel wieder fahren. Kombiniert man diese Meldungen, kann man davon ausgehen, dass der Tote ein Einzeltäter war und die Gefahr im öffentlichen Raum gebannt ist.
Schon vor der Pressekonferenz schlafe ich erschöpft ein.
Dennoch gefundenes Fressen für Rechte
Am nächsten Morgen ist klar, dass es ein Amoklauf war. Kein Terroranschlag. 10 Todesopfer inklusive des erst 18jährigen Täters sowie viele Schwer- und Leichtverletzte gibt es trotzdem zu beklagen.
Und die wichtige Frage: Was treibt einen jungen Menschen, fast noch ein Kind, dazu, solch eine Tat zu begehen? Und vor allem – hätte man das verhindern können? In der Wohnung wurden Bücher und Artikel über Amokläufe gefunden. Alles war geplant, nach jetzigem Ermittlungsstand lockte der Täter mit einem gefälschten Facebook-Account gezielt Jugendliche zum Tatort.
Der Junge war Deutsch-Iraner. Aufgewachsen in der Maxvorstadt. Kein Flüchtling, kein Zuagroaster wie man in Bayern sagt. Klar ist diese genauer definierte Nationalität für die Rechten ein gefundenes Fressen. Vielleicht doch radikalisiert? Ganz sicher kein Terroranschlag?
Nein. Leider nur ein sehr verzweifelter Teenager, der eine unfassbare Tat begangen hat. Der sich – in diesem dubiosen Video – selbst als Deutscher bezeichnet hat. Ohne jede Einschränkung.
Wer ist eigentlich der Mann, der ihn als Kanake beschimpft hat? Vielleicht wird er noch zum Helden, weil er den Täter durch seine bayerische Schimpftirade aus dem Konzept gebracht hat? Immerhin hatte der Schütze noch 300 Patronen im Rucksack. All das wird man erst rausfinden müssen.
#offenetuer
Die Quintessenz dieses Abends, den ich so hautnah in meiner Heimatstadt miterleben musste, lautet: Die Polizei hat allen Bürgern größtmögliche Sicherheit vermittelt. Die Maßnahmen waren drastisch, da von einem Terroranschlag ausgegangen werden musste. Die Münchner haben mit dem Hashtag #offenetuer gelebte Solidarität und Hilfsbereitschaft bewiesen. Auch die Münchner Moscheen hatten die ganze Nacht geöffnet. Die Stadt hat Zusammenhalt bewiesen. Ich habe mich zu keiner Sekunde unsicher gefühlt.
![© Sophia Hoffmann Straßenfest München](../../v2static/storyimages/site/fm4/20160729/straßenfest_body.jpg)
Sophia Hoffmann
Gestern, am Tag danach, war ich auf einem Straßenfest im Dreimühlenviertel. Zwischen die bunten Fähnchen wurden als Zeichen der Trauer schwarze Stoffstücke gehängt.
Es war trotz allem ein fröhliches Fest mit internationalen Spezialitäten, Bier, herum tollenden Kindern und Live-Musik. Ein älterer Herr spazierte am frühen Nachmittag kopfschüttelnd an uns vorbei und sagte: „Da hat München so ein Schicksal erlitten und die Menschen feiern, unmöglich!“.
Ich entgegnete: „München hat schon viel schlimmere Schicksale erlitten – und ganz ehrlich, was sollen sie denn sonst tun? Zuhause bleiben und Angst haben? Sicher nicht. Prost!“