Erstellt am: 23. 7. 2016 - 11:07 Uhr
Where the wild things are
Am Anfang dieses Films steht ein unbestimmtes Unwohlsein mit der Welt, ein Gefühl von Abgetrenntheit und Entfremdung. Wie eine Schlafwandlerin driftet die Mittzwanzigerin Ania (Lilith Stangenberg) durch den Alltag. Ihren Job erledigt sie auf Autopilot, den fragwürdigen Chef (Georg Friedrich) ignoriert sie, die eigene Schwester erscheint ihr fremd, nur der Großvater, der im Krankenhaus liegt, ist eine Art Bezugsperson.
Dann, eines Tages, sieht Ania in einem Park am Stadtrand einen herumstreunenden Wolf. Ein verstörender Anblick, der sie aus ihrer Apathie reißt. Die junge Frau ist fasziniert von dem wilden Tier, sie will den Wolf wiederfinden, in seiner Nähe sein, will sich mit ihrer eigenen Angst konfrontieren.
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Die Berliner Schauspielerin Nicolette Krebitz ignoriert in ihrer dritten Regiearbeit sämtliche schaurigen Klischees vom großen bösen Hollywood-Wolf ebenso wie romantisch-verkitschte Naturvorstellungen. "Wild" ist die kompromisslose Geschichte einer Selbstfindung und in mehrfacher Hinsicht ein mutiger Film. Zum einen was die formale Umsetzung betrifft, da werden dramaturgische Haken geschlagen und narrative Konventionen ignoriert. Zum anderen begeistert die grandiose Lilith Stangenberg durch hautnahes Schauspiel mit einem echten Wolf. Es ist schön zu sehen, wie sich das Kino derzeit aus gewissen Fesseln befreit und trotzdem zugänglich bleibt, im deutschsprachigen Bereich mit Filmen wie "Toni Erdmann" oder "Wild".
Etwas von dieser Aufbruchstimmung vermittelt Nicolette Krebitz auch im FM4-Studio. Dass die Regisseurin und Schauspielerin bei all ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Enthusiasmus sehr ruhig und klar bleibt, lässt sie doppelt so souverän wirken.
Nicolette, in deinem Film setzt sich eine junge Frau durch eine Begegnung mit einem Wolf zunehmend über gesellschaftliche Zwänge hinweg. Gibt es eine spezielle Inspiration oder sogar ein persönliches Erlebnis hinter dieser Geschichte?
Es hat eigentlich alles mit einem Traum angefangen. Ich bin darin in einem Wald oder einem Park gelaufen und irgendetwas war hinter mir her. Ich habe mich umgedreht und da stand ein Wolf. Das war relativ überraschend, weil ich bis dahin nichts mit Wölfen zu tun hatte. Deshalb habe ich mich natürlich gefragt, was das zu bedeuten hat.
Nicolette Krebitz
Daraufhin habe ich mich auf den Weg gemacht in die Lausitzer Heide. Das ist eine Gegend in Deutschland an der polnischen Grenze, wo vor ein paar Jahren wieder die ersten Wölfe in Deutschland gesichtet wurden. Es gibt dort sozialistische Bauten, das erste Rudel hatte sich auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz niedergelassen. Dort steht sogar noch ein Panzer, aus dem Gras wächst, und darunter wurden die ersten Wolfsbabys geboren. Diese Bilder, diese Gegenüberstellung von Mensch und Tier, wie die sich anblicken und was da passiert, diese leeren Orte an der polnischen Grenze, die sich die Wölfe zurückerobern - das war eigentlich der Ausgangspunkt für die Geschichte.
Das heißt, nach dem Traum ist eigentlich relativ schnell die Idee entstanden, aus dieser Story einen Film zu machen?
Ich wusste das sofort! Ich bin aufgewacht und dachte: Das wird mein nächster Film! Aber warum, war mir natürlich noch nicht klar.
Selbstfindung ohne Sicherheitsnetze
Du meintest, vor dem Film hattest du nicht so viel mit Wölfen am Hut. Gab es da keine frühere Faszination, vielleicht als Kind, durch Märchen oder ähnliches?
Nein, ich bin nie ein typischer Wolfs-Fan gewesen und habe auch nicht die Bilder von heulenden Wölfen vor dem Mond romantisiert oder so etwas in der Art.
Gerade im Kino oder auch in der Kunst verbindet man unglaublich viele Stereotypen mit Wölfen. Es gibt auch einen gewissen Wolfs-Kult in der Esoterik. Hast du versucht, deinen Film beim Schreiben bewusst von solchen Klischees wegzubringen?
Ich wollte den Wolf natürlich selber entdecken. Was er für mich ist oder was ich glaube, was er für Leute wie mich bedeuten könnte. In vielen Geschichten gibt es das typische Motiv "Man versus nature". Also der Wolf als Konkurrent zum Mann, den man bekämpfen oder vor dem man seine Schafe schützen muss. Aber in meinem Film ist es ja kein "Man", sondern "a Woman", und die geht eher "with nature". Sie konzentriert sich darauf, was sie sich abschauen kann oder was sich der Wolf von ihr abschaut. Sie gehen eine Verbindung miteinander ein.
Was mich persönlich an Wölfen fasziniert, ist, dass es sie schon länger als Menschen gibt. Wir haben uns ja sehr verändert von den ersten Menschen bis heute, aufgrund der Welt, die wir uns gleichzeitig designt haben. Doch die Wölfe sind immer sie selbst geblieben. Die gehen zu McDonald’s hinten auf den Parkplatz und klauen sich einen Cheeseburger aus der Mülltonne und bleiben trotzdem ein wildes, unabhängiges Tier - das finde ich faszinierend.
Gehen wir ein Stück weiter weg vom Wolf, nämlich gleich zur Natur im Allgemeinen. Ein anderer Film von dir heißt ja "Das Herz ist ein dunkler Wald". Ania, die Protagonistin von "Wild", fühlt sich von ihrer Umgebung und der Gegenwart entfremdet und flüchtet mit dem Tier in die Natur. Ist aber heute nicht schon jedes Stück Natur vollkommen domestiziert und auf gewisse Weise artifiziell?
Genau das denke ich auch. Ich glaube nicht, dass die Natur die Antwort auf zivilisatorische Wehwehchen ist. Die Hauptdarstellerin geht auch nicht wirklich in die Natur, sondern sie geht in diesen Tagebau einer recht utopischen Natur, die von Menschen gemacht wurde. Es geht eher um die Natur in ihr selbst, also darum, ihre Natur wiederzuentdecken, wieder auf sie zu hören. Was in unserer Welt vielleicht auf der Strecke bleibt oder in den Rollenvorgaben, in denen sie sich nicht wiederfindet. Es ist auch nicht so, dass sie so großartig "entfremdet" ist, sondern sie ist einfach unbeteiligt, weil alle Möglichkeiten, die das Leben ihr bietet, sie nicht reizen.<<
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Sobald diese Begegnung mit dem Wolf stattfindet, folgen in dem Film eine Menge Grenzüberschreitungen. Es gibt auch eine sexuelle Komponente. Die Begegnung mit dem Wolf weckt diesbezüglich etwas in Ania. Wie hast du dich diesem heiklen Terrain genähert?
Zu jeder Art von Selbstfindung - das ist so ein abgenutztes Wort -, also wenn du dich auf den Weg machst, um zu erfahren, was du wirklich willst und wie das Leben aussehen könnte, gehört die Sexualität eben dazu. Ich wollte nicht davor zurückschrecken, nur weil im Zusammenhang mit einem Tier sofort das Thema Sodomie aufkommt.
Aber darum geht es in dem Film eigentlich gar nicht. Sondern er beschäftigt sich eher mit der Innenwelt dieser Frau, für die Bilder gefunden werden. Der Wolf fasziniert sie, denn Wölfe sind, wie sie sich bewegen oder im Rudelverhalten, unabhängig und gleichzeitig sehr verantwortungsvoll. Diese Mischung sehnt man sich für eine Frau herbei. Man denkt: Klar will ich Familie, eine Frau sein und all das, aber ich will trotzdem machen, was ich will. Ich glaube, deswegen gefallen Frauen Wölfe auch so gut.
"Wild" versucht auch formal eigene Wege zu finden. Findest du, dass derzeit eine Aufbruchstimmung herrscht, eine Loslösung von konventionellen Dramaturgien?
Also, ob ich Teil irgendeiner Bewegung bin, das weiß ich nicht. Mich hat vor allem inhaltlich interessiert, nicht einen flachgetrampelten Weg entlangzugehen. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Form. Ich wollte einen Film machen ohne Sicherheitsnetz und ohne dass man weiß, was als nächstes kommt. So unsicher das einen am Anfang macht und sosehr man sein Kartenblatt mit allen Zitaten heranzuziehen versucht, hört man irgendwann damit auf. Und lässt sich auf den Film ein. Das hatte ich vor und ich glaube, es hat auch geklappt.
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Rindfleischstücke als Motivation
Wie bist du auf die großartige Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg gestoßen?
Die habe ich im Theater an der Berliner Volksbühne gesehen. Ein Freund, René Pollesch, hat sie mir empfohlen. Was mir an Lilith so gut gefällt, ist erstmal, dass sie eine ganz modern aussehende Frau ist. In dem Sinn, dass sie nicht so typisch weibliche Tricks und Kniffe setzt, sondern sie ist schon ein bisschen androgyn, ein wenig, wie von einem anderen, neuen Stern. Das finde ich ganz interessant, rein äußerlich. Und dann war sie 25, als wir den Film gedreht haben. Ich habe noch nie eine Schauspielerin in diesem Alter erlebt, die so mutig ist und sich auch so bereitwillig einem Thema hingibt.
Mut ist ein Schlüsselwort im Zusammenhang mit diesem Film und unweigerlich muss man dabei über die Dreharbeiten sprechen. Denn als Zuschauer fragt man sich natürlich, ob es einen oder mehrere Wölfe gab beziehungsweise mit Tricks gearbeitet wurde?
Wir haben kein CGI, keine digitale Nachbearbeitung oder Derartiges gehabt. Es ist alles so, wie du es siehst. Wir hatten einen ziemlich tollen Tiertrainer aus Ungarn, der lebt mit vielen Tieren zusammen, die aus Zoos ausrangiert wurden. Er hat Bären, Schweine, Hirsche, Wölfe - und hat, glaube ich, aus Langeweile angefangen, mit denen Sachen einzustudieren.
Es war alles gestoryboarded und bis ins kleinste Detail vorgearbeitet, denn ein Wolf am Set ist eigentlich wie ein Superstar. Alles muss bereit sein, jeder muss an seinem Platz sein und dann kommt er! Schlussendlich bleibt es natürlich immer gefährlich, weil es ist ja ein wildes Raubtier und man muss versuchen, dieses Risiko einzudämmen - natürlich besonders für Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg.
Und wie lief das dann ab?
Meistens sah es so aus, dass nur noch der Kameramann mit seinem Assistenten am Set war, der Tiertrainer auf der einen Seite, ich auf der anderen. Der Tiertrainer redet mit dem Wolf die ganze Zeit über und hat seine Lockrufe und Sprache mit ihm und ich rede mit Lilith, um ihr zu sagen, wo der gerade ist, wo wir gerade in der Szene sind. Denn der Wolf geht ja auch nicht auf Position und macht die ganze Zeit, was man will. Aber man kann ihn ganz gut über kleine Rindfleischstücke motivieren.
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Leonardo ist doch eine Flasche
In alten Hollywoodfilmen gab es ja oft diesen Trick mit einer Glaswand, die man im fertigen Film dann nicht gesehen hat, zum Beispiel in Tarzan-Filmen. Du hast aber keine Sicherheitsnetze in dieser Richtung eingesetzt?
Nein, es gibt ja auch direkten Kontakt zwischen den beiden. Sie kommen sich sehr nahe, mit einer Glaswand wäre das gar nicht gegangen. Mich hat interessiert, diese Gegensätze von Haut und Fell, zivilisiert und wild zusammenzubringen, denn dadurch entsteht unweigerlich diese Reibung, an der man auch wachsen, etwas lernen oder etwas erkennen oder erleben kann. Bei "The Life of Pi" oder "The Revenant" dagegen, da passiert halt auch nichts, was ich wirklich glaube.
Das heißt, der digitale Bär in "The Revenant" hat dich nicht überzeugt?
Ich denke, der hat niemanden überzeugt. Der Rest des Films hat einen natürlich überzeugt, aber gerade bei der Szene steigt man aus, finde ich. Da denkt man, na gut, Leonardo DiCaprio ist doch ’ne Flasche. (lacht)
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Bleiben wir beim Thema Mut. Für viele Filmemacher oder Künstler generell ist die Kunst oder das Kino der Ort, wo sie ihre Grenzüberschreitungen ausleben. Ist das für dich ähnlich - siehst du es auch so, dass Grenzüberschreitungen nicht unbedingt im Privatleben stattfinden müssen, sondern dass man sie als Künstler im Kino auslebt?
Klar, das Kino ist immer noch ein Ort, wo es dunkel wird, wo man relativ unerkannt etwas miterleben kann und wo man auch die Reaktionen der anderen sieht, die vielleicht an anderen Stellen liegen als die eigenen. Einen Film alleine auf einem Laptop zu gucken ist auch toll, aber im Kino ist es schon etwas Besonderes. Deswegen glaube ich, das Kino ist auch ein Ort, der einem etwas zeigen kann und ermöglichen, etwas auszuleben. Und es kann einen auch anstiften, rauszugehen und den zweiten Teil von "Wild" selbst zu leben. Das vermisse ich manchmal im Kino heute, dass es sich im Klaren darüber ist, was es alles kann - außer zu unterhalten.
Danke für dieses Gespräch!