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Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

2. 8. 2016 - 16:12

Surreal in Kentucky

Auch der vierte Akt des Episoden-Adventures "Kentucky Route Zero" ist ein surreales Meisterwerk.

Cardboard Computer

Es gibt Spiele, die fallen aus jedem Rahmen. “Kentucky Route Zero” ist so eines.

Vor dreieinhalb Jahren erschien der erste Teil des Spiels, das auf vier Episoden, hier Akte genannt, aufgeteilt ist. Vor Kurzem ist nach zwei langen Jahren Wartezeit der vierte Teil des Adventures erschienen. Eigentlich trifft aber schon diese Genrebezeichnung nicht zu, denn “Kentucky Route Zero” hat mit den klassischen Point&Click-Abenteuern in der Tradition von “Monkey Island” & Co nichts außer der Form gemeinsam. Wohl steuern wir die Hauptfiguren durch die Geschichte und wählen in den zahlreichen Gesprächen aus verschiedenen Antwortmöglichkeiten, aber Rätsel oder spielerische Herausforderungen im klassischen Sinn gibt es überhaupt nicht.

Im Regiesessel

Wer Genaueres über die erstaunlich weitreichenden Zitate, Anspielungen und Hintergründe der Welt von "Kentucky Route Zero" erfahren will, ist mit dieser ausführlichen Analyse bestens versorgt.

Achtung: Kunst!

Stattdessen sind wir so etwas wie Regisseure, die dem Geschehen durch ihre Entscheidungen neue Wendungen und Bedeutung geben. So kann es schon sein, dass wir in einem Gespräch einmal die Antworten beider Gesprächspartner bestimmen, oder aber mit unseren Entscheidungen zum Teil grundverschiedene Vorgeschichten unserer Figuren festlegen. Wie die Entwickler Cardboard Computer hier immer wieder völlig neu, originell und schlicht unerwartet mit Perspektivenwechseln und spielmechanischen Konventionen spielen, ist schon allein für sich betrachtet großartig. “Kentucky Route Zero” ist eigentlich etwas völlig Neues - eine wilde und interaktive Mischung aus Roman, Theaterstück und Computerspiel.

Die stylische Präsentation und die fantastische Musikauswahl geben den Rahmen für eine Geschichte, wie es sie sonst im Medium nicht zu sehen gibt. Die mysteriöse Suche nach dem titelgebenden Highway mit der Nummer Null führt eine eigenwillige Gruppe von Menschen durch ein ländliches Amerika, das so höchstens in der Fantasie von David Lynch existieren mag. Eine von Braunbären bevölkerte Bürokratie, Fledermaushöhlen, in denen künstliche Motten verfüttert werden, mechanische Mammuts auf Flussdampfern und ein Hund mit Hut bleiben dafür lange im Gedächtnis.

Cardboard Computer

Magischer Realismus als Spiel

Die große Inspiration der Spielemacher ist die künstlerische Strömung des magischen Realismus, in der Wirklichkeit und poetisch Surreales nebeneinander existieren. So fühlt sich “Kentucky Route Zero” auch im vierten Akt wie ein schräges, aber faszinierendes Road-Movie an, aus dem einzelne Sequenzen immer wieder herausragen.

“Kentucky Route Zero” ist für Windows, Mac und Linux erschienen. Von fünf geplanten Akten sind seit 2013 vier erscheinen; wann Teil 5 kommt, ist ungewiss.

“Kentucky Route Zero” ist kein Spiel für jeden. Wer sich Gameplay oder Action erwartet, wird von diesem seltsam faszinierenden Kunstwerk eher unberührt bleiben. Wer allerdings wissen will, was sich mit dem Medium Computerspiel noch alles anstellen lässt, sollte sich unbedingt auf die Suche nach dem verlorenen Highway begeben.

Alle vier bislang erschienenen Episoden, die beim Kauf des Spiels inklusive der letzten, noch folgenden Episode enthalten sind, bieten zusammen etwa fünf bis sechs Stunden anspruchsvolle und einzigartige Unterhaltung mit Tiefgang. Unbedingte Empfehlung.