Erstellt am: 20. 7. 2016 - 15:32 Uhr
The daily Blumenau. Wednesday Edition, 20-07-16.
#demokratiepolitik #medienpolitik
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die bisherige Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
Nach der Euro ist zwar vor der WM-Quali und vor der nächsten Liga-Saison und überhaupt, es ist aber auch wieder Zeit fürs richtige Leben.
Der konservative deutsche Star-Philosoph Peter Sloterdijk lieferte letzte Woche wichtige Argumentationshilfen gegen den grassierenden Populismus. Seine Thesen sind aus drei Gründen nicht bei den Menschen angekommen, die sie brauchen könnten. Das ist schade und Grund genug für einen Recall.
Antrag auf Entlassung aus der Wirklichkeit
Sloterdijk geht einen Schritt weiter als etwa Clemens Setz, der die Eigendynamik der Angst analysierte. Sein Kernsatz lautet: "Hat man den Populismus als Aggressionsform der Simplifizierung verstanden, so weiß man auch, warum seine Anhänger mit seiner Ergebnislosigkeit von vornherein einverstanden sind." Was die Menschen in die Fänge der Populisten treibt, sei "das Verlangen nach Entlassung aus der Wirklichkeit".
Das kommt wohlgemerkt von einem, dem zuletzt gerne heimliche Sympathie mit jenen deutschen Philosophen (wie seinem ehemaligen Kollegen Safranski) unterstellt wurde, die sich anschickten, der AfD den Boden zu bereiten und bräsigen Konservativismus mit verschwitztem Nationalismus zu einer neoteutonischen Staatsphilosophie zu verwursten suchten.
Die EU als populismusresistente Bastion?
In dieser Radikalität, ganz ohne die sonst übliche Beschönigung und Relativierung, aber auch ohne Bewertung dieses psychosozialen Befunds, und mit ganz konkreten Zuschreibungen (AfD, Brexit) hat sich noch niemand geäußert. Sloterdijk verzichtet auch auf die sonst üblichen Untergangs-Szenarien; sein Glaube an Europa ist (ebenso wie jener an die Qualitätsmedien, die die Lügenpresse-Krise überstehen werden) unverrückbar. Auch weil die Europa überschwappende Nationalismus/Populismus-Epidemie, der auch von den aktuellen Regierungen herbeigeführt wurde, mittels der sogenannten asymmetrischen Demobilisierung wie jede Epidemie wieder abebben wird. Sloterdijk ist überzeugt, die EU wäre das "erste populismusresistente Gebilde der Geschichte".
Dass sein Text nicht dort angekommen ist, wo man ihn brauchen würde, hat mit a) der Wahl des Ausspielwegs, b) mit der Verfasstheit der (von ihm gänzlich anders eingeschätzten) Qualitätsmedien und c) mit der Sloterdijk'schen Eitelkeit zu tun.
handelsblatt
Sein Essay erschien letzten Donnerstag in der Wirtschaftstageszeitung des deutschen Herrschaftswissens, dem Handelsblatt, also unter Ausschluss der an gesellschaftspolitischen Themen interessierten Öffentlichkeit, verschwand im Web-Auftritt sofort hinter einer Bezahlschranke, ist also nicht social-media-teilbar und somit für den öffentlichen Diskurs wertlos.
Stattdessen griff die Konkurrenz-Medienmeute den Teil des Textes auf, der News-Wert hatte. Sloterdijk kanzelte seinen Schüler Marc Jongen, den selbsternannten Chefdenker der AfD aufs Böseste ab und distanzierte sich so mit schnaubend-gereizter Gelassenheit von allen Unterstellungen. Das wurde letztes Wochenende größer berichtet. Vom Rest seiner Analyse fand sich so gut wie nichts wieder.
Sehnsucht nach dem Konzert der Unqualifizierten
Auch weil es nicht so einfach ist, den radikalen Kern aus einem Text rauszuschälen, der zuerst einmal ausufernd die Begriffsgeschichte des Brexit erzählt, sich immer wieder in Churchills Idee von Europa und final dann in wenig subtilem Bashing von Sigmar Gabriel und Schüler Jongen (dem er die indirekte Frage stellt, warum er in zehn Jahren priviligierter Arbeitsbedingungen keine Buchveröffentlichung hervorgebracht habe; tatsächlich ist Jongen Veröffentlichungsliste ausgesprochen dünn) verstrickt.
Dabei liefert Sloterdijks Beschreibung des Status Quo dutzende Sätze für das dringend nötige Handbuch "Wie erkenne ich Populismus, wie gehe ich damit um?"
In den modernen Populationen - den Begriff "Völker" will er nicht mehr verwenden - existiere offenbar "eine Sehnsucht nach der Inkompetenz an der Macht". Sloterdijk erwähnt da die USA, Polen, Frankreich, Italien und auch Österreich, wo der "Zuspruch zu den Ungeeigneten" hoch wie nie wäre. Er unterstellt einen bewussten Deal zwischen Populisten und ihrer Wählerschaft, eine "Unernstspirale", ein kindliches Spiel mit dem Feuer samt "Lizenz zum Trotzverhalten".
Was sich als Information ausgibt ist oft nichts anderes als Vergiftung
Und er analysiert auch die Rolle die die Medien angesichts der artifiziellen politischen Epidemien (mit der Cameron'schen Fehlkalkulation des Brexit als Haupt-Indiz) spielen: Sie seien weniger "Informationsmittel als Infektionsträger", die der "Zerstörung der öffentlichen Urteilskraft" dienen und jede Demokratie, auch die vergleichsweise älteste destabilisieren können. Den Populisten spiele das in die Arme: wenn Volkes Stimme "verlangt, ins Unmögliche geführt zu werden, erweist man ihm diesen Dienst allzu gerne." Zentraler Faktor ist das Zusammenspiel von 1.) der Mobilisierung der Erregbaren und 2.) der asymmetrischen Demobilisierung der Gelassenen.
Sloteredijk nennt Europa "unbeirrbar mittelmäßig" und sieht da die große Stärke der "einzigen politischen Struktur, die ins Große reicht, ohne die üblen Manieren des Imperialismus an den Tag zu legen". Wie dieses Europa, diese EU und ihre Bürger lernen werden, dem "Willen zur Verantwortungslosigkeit an der Macht" erfolgreichen entgegenzusetzen, erläutert Sloterdijk nicht. Er bleibt in der Andeutung eines "erwachsenen Widerstands", der wohl im Gegensatz zur als kindlich beschriebenen Unernst-Spirale gemeint ist.
Wohlgemerkt: es nicht nicht Slavoj Žižek, der wild-riskante Vordenker, vor dessen Bocksprüngen viele Angst haben, es ist Sloterdijk, der bewahrende Held der Konservativen. Also jemand, den man in Diskussionen mit Eltern, Lehrern und Kollegen gefahrlos verwenden kann.