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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

20. 7. 2016 - 11:45

Asne Seierstad: "Einer von uns"

Fünf Jahre ist her, dass der Norweger Anders Behring Breivik acht Menschen bei einem Bombenanschlag in Oslo und 69 junge Mitglieder der sozialdemokratischen Jugendorganisation auf der norwegischen Insel Utöya umgebracht hat. Wer ist Anders Breivik? Und wie konnte es zu dieser Tat kommen?

Die Investigativjournalistin Asne Seierstad recherchierte Breiviks Vorgeschichte und die Tage rund um die fürchterliche Tat akribisch und fasste sie in dem Buch "Einer von uns - die Geschichte eines Massenmörders" zusammen.

"Einer von uns - die Geschichte eines Massenmörders" von Asne Seierstad ist im Verlag Kein & Aber erschienen. Übersetzt aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock.

Anders braucht auffällig wenig Aufmerksamkeit. Er ist vorsichtig und beherrscht, quengelt wenig und ist extrem ordentlich und sauber. (…) Von sich aus nimmt er wenig Kontakt zu anderen Kindern auf. Er nimmt mechanisch an Aktivitäten teil, ohne besondere Freude oder Lust zu zeigen. Das schreiben Kinderpsychiater 1983 über den vierjährigen Anders, der auf Anraten des Jugendamts zur Untersuchung geschickt wurde.

Buchcover "Einer von uns"

Kein & Aber

Seierstad zeichnet in "Einer von uns" Breiviks Kindheit und Jugend nach: die psychischen Probleme der Mutter, und wie er schon als Kleinkind immer wieder zu Pflegeeltern und in die Psychiatrie kommt - aber auch die verschiedensten Phasen, die er als Jugendlicher durchmacht.

Unter dem Tag "Morg" ist er Teil einer Sprayergruppe, als solcher plant er minutiös Taggingstreifzüge durch Oslo. Später engagiert er sich in der neu aufkommenden, rechtspopulistischen Fortschrittspartei. Er versucht, bei den Freimaurern aufgenommen zu werden und mit einem Internet-Start-up reich zu werden. All den Anschlüssen an verschiedene Gruppen ist immer eines gemeinsam: Breivik nervt die anderen Gruppenmitglieder, er spielt sich als Chef auf und möchte als Newbie gleich bestimmen. Oder, wie es bei den Sprayern heißt: Er benahm sich wie ein King, obwohl er nur ein Toy war.

Weil er in allen diesen Gruppen nicht richtig ankommt, bleibt Breivik immer mehr alleine im von ihm so genannten "Furzzimmer", seinem ehemaligen Jugendzimmer in der Wohnung seiner Mutter. Fünf Jahre hockt er dort, computerspielend, arbeitslos, ohne Ziel, eine gescheiterte Existenz. In dieser Zeit, so stellen die Gerichtsgutacher fest, beginnt seine Radikalisierung. Breivik liest rechte Websites und versucht, mit den Autoren und Autorinnen in Kontakt zu treten. Auch hier passiert etwas Ähnliches wie in den Gruppen zuvor: Er spielt sich auf, gibt Tipps und wird im Endeffekt von seinen Vorbildern nicht beachtet. Schlussendlich beginnt Breivik, sein berühmtes "Manifest" zu verfassen, dessen letzter Teil auch eine Art Tagebuch von den Vorbereitungen bis hin zum Bombenattentat und dem Massaker auf Utöya ist.

Es war eine Kriegserklärung. (…) Viele Menschen würden Blut vergießen, ehe die Gesellschaft nach seiner Vorstellung gedrillt wäre. (…) Der Schluss stammte nur von ihm: Es war sein Manifest, sein Testament, sein letzter Wille.

Utøya Gedenkblumen

CC BY-SA 3.0 Paalso; Paal Sørensen via Wikicommons

Aber nicht nur Breiviks Geschichte wird erzählt, es werden auch die Leben von jungen Mitgliedern der AUF nachgezeichnet, der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei. Bano flüchtete mit ihrer Familie aus dem Irak, der hübsche und beliebte Simon aus dem norwegischen Norden hat eine große Zukunft vor sich. Und dann laufen die Geschichten von Anders, Bano und Simon am 22. Juli 2011 auf Utöya zusammen.

Ein Schuss knallte und traf die Stirn ihrer Freundin. Sie zuckte, und ihre Hand wurde schlaff. 17 Jahre sind kein langes Leben, dachte das Mädchen, das noch am Leben war. Dann knallte es wieder. Die Kugel heulte und riss ihr die Kopfhaut auf. Blut rann ihr übers Gesicht.

Seierstad sprach mit vielen Überlebenden und ließ sich die Vorkommnisse auf der Insel genau schildern. Minutiös berichtet sie in einem furchtbaren und endlos scheinenden Kapitel Breiviks blutigen Feldzug - das Ganze in einer fast filmischen Parallelmontage mit den Verfehlungen der norwegischen Polizei. So ist etwa die gesamte Mannschaft des Polizeihubschraubers auf Urlaub, und keiner kann den Hubschrauber starten - während bereits ein Fernsehhubschrauber über die Insel kreist und live berichtet. Und ein weiteres Beispiel: Polizisten, die am Ufer des Sees auf das Polizeiboot warten, anstatt eines der vorhandenen zu nehmen.

Utöya war 600 Meter entfernt. (…) Die Boote lagen festgemacht ganz in der Nähe. Doch die Streife vor Ort unternahm keinerlei Anstrengungen, eines davon zu nutzen. (…) Die Beamten hörten einfach nur den Schüssen zu.

Dass die norwegische Polizei Hinweise verschlampt und einen schnellen Einsatz verschlafen hat, tut hier besonders weh - denn gleichzeitig erschießt Breivik im Minutentakt wehrlose Teenager und Teenagerinnen. In diesem Aufzeigen der Schlamperei und der Schrecklichkeit liegt die Stärke des Buches, das von der "New York Times" zu den zehn besten des Jahres gewählt wurde.

Åsne Seierstad

Kagge/Sturlason

Asne Seierstad

Ansonsten sind die Details aus Breiviks Leben durchaus interessant. Aber Antworten, wie es zu so einer Tat kommen kann, können auch sie nicht geben. Wie auch? 69 tote Teenager und acht von der Bombe in Oslo getötete Menschen sind nicht einfach mit einer schweren Kindheit erklärbar.

Deswegen liegt der Fokus des Buchs zum Schluss auf der Gerichtsverhandlung und auf dem Umgang der Überlebenden sowie Angehörigen der Opfer mit der Tragödie. Und darauf, wie Breivik zum Medienstar wird und wie sich die norwegische Justiz bemüht, ihm trotzdem nicht zu viel Öffentlichkeit zu geben, wie manche Eltern der toten Teenager der AUF unversöhnlich gegenüberstehen und auch die Wiederbelebung von Utöya als Ferienlager kritisch sehen.

Breivik wurde für zurechnungsfähig erklärt und zu 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das ist die höchste Strafe, die es im norwegischen Strafrecht gibt.