Erstellt am: 18. 7. 2016 - 22:23 Uhr
Die magische Karte
Sie rufen nicht mehr an, die Radios und Zeitungen aus Deutschland und Österreich, und ich bin deshalb nicht beleidigt.
Das Ding mit dem Brexit ist anderen, noch furchtbareren Dingen gewichen. Da kann selbst ein Boris Johnson nicht mithalten.
Für mich wiederum bzw. für uns (ich ziehe meine Familie ja aus Prinzip nicht in meine Blogs mit rein) fängt's gerade erst an, das Ding mit dem Brexit.
Ich rede jetzt gar nicht einmal von ausländerfeindlichen Übergriffen - meine Lieblingsanekdote dazu stammt übrigens von einem deutschen Freund aus Kentish Town in Nordlondon, bei dessen französischen Nachbarn kürzlich Einbrecher über die Gartenmauer stiegen. Als die Frau des Hauses sie stellte und mit ihrem Handy fotografierte, fragte einer der Einbrecher: "Und darf ich Sie fragen, wann Sie das Land verlassen?"
Ja, auch die Einbrecher Großbritanniens wollen ihr Land zurück haben. Bevor du gehst, hätten sie aber gern noch deinen Laptop.
Lustig, aber davon rede ich hier wie gesagt gar nicht, sondern schlicht und pragmatisch von unseren Rechten.
Einstweilen, hatte ich mir gedacht, bleibt sowieso alles gleich, aber dann hab ich mich von den sozialen Medien und dem Zeug, das man da liest, in die Paranoia treiben lassen, und siehe da, sie ist berechtigt.
Vergangenen Freitag nämlich waren wir bei einer Frage-Antwort-Session des Migrants' Rights Network, zusammen mit all den anderen Zuckerpüppchen, sprich EU-Bürger_innen, die wir gewohnt sind, dass sich alle Türen für uns öffnen.
Und plötzlich kriegen wir ein bisschen was davon zu spüren, wie es allen anderen geht, die nicht dort wohnen, wo sie geboren wurden. Eine kleine Kostprobe all der kleinen Sauereien, die sich Staaten so einfallen lassen, um Menschen ohne aktives Wahlrecht zu schikanieren.
Vier ausgefuchste Expert_innen im Fremdenrecht waren also bei dieser Veranstaltung und vermittelten uns eine ungeschönte Version davon, was uns in den nächsten Jahren und Monaten erwarten könnte.
Auch wenn der neu eingesetzte Brexit-Minister David Davies es gerade wieder schick und opportun findet, Schreckensbilder eines schnell noch vor der Deadline ins gelobte Brexit-Land drängenden Stroms von EU-Migrant_innen an die Wand zu malen und Einschränkungen für deren Aufenthaltsrecht anzukündigen:
Wer schon da ist, wird allerhöchstwahrscheinlichst bleiben können.
Wer schon über fünf Jahre hier lebt, hat sich dadurch automatisch ein permanentes Bleiberecht erworben. Daran dürfte auch nachträglich nicht zu rütteln sein (abgesehen davon, dass Großbritannien unsereiner ja braucht, weil wir sowieso bloß einzahlen und zum Beispiel im Gesundheitssystem Jobs erledigen, für die es hier bei weitem nicht genügend qualifizierte Kräfte gibt).
Robert Rotifer
Aber es gibt da einen Haken. Wenn die Deadline kommen sollte, müssen wir nämlich erst beweisen, dass wir unser Recht, hier zu sein, auch wirklich ausüben.
Könnte sonst ja jede_r daherkommen und behaupten, sie oder er habe die britische Luft in Sesshaftigkeit genossen.
Service-Leistung für Auslandsösterreicher_innen
Am Besten, ich erklär die Details hier einmal quasi als Service-Leistung für alle Auslandsösterreicher_innen in diesem Land (Alle anderen können unterhalb des nächsten Bilds weiterlesen):
Dieser Beweis, dass man auch wirklich in Großbritannien lebt, muss amtlich erbracht werden, kostet 65 Pfund und manifestiert sich in Form einer Permanent Residence Card.
Jene ist beim Home Office (Innenministerium) zu beziehen. Theoretisch dauert es bis zu (in Wahrheit dagegen mindestens) sechs Monate vom Antrag bis zum Erhalt der Karte.
Und falls der Antrag aus welchem Grund auch immer abgelehnt wird, gibt es keinen Weg zurück.
Das Hauptkriterium für die bisher nie in Frage gestellte, legitime Ansässigkeit ist die wirtschaftliche Aktivität.
Leute, die in Großbritannien gar nichts oder nicht genug verdienen (und die Frage wieviel, ist nicht so leicht geklärt), müssen sich glaubhaft als "self-sufficient" darstellen, und dazu gehört unter anderem ein Beleg einer "umfassenden Gesundheitsversicherung" (auch wenn eine solche in Großbritannien praktisch niemand hat, zumal es ja das allen hier Wohnenden zugängliche Gesundheitssystem NHS gibt. Auch eine Zusatzversicherung nützt da im Zweifelsfall nichts).
Verwandtschaften und Beziehungen bzw. Kinder spielen auch eine - allerdings komplexe - Rolle.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass man die magische Karte schon beantragt haben muss, sobald Großbritannien die EU verlässt und das Recht sich ändert. Ob darunter ein vollzogener Austritt oder der Zeitpunkt des Inkrafttretens von Artikel 50 des EU-Vertrags zu verstehen ist, hängt vom Gesetz ab, das die Regierung sich dazu einfallen lässt (und wir haben es hier mit David Davies und Theresa May zu tun).
Es spricht also alles dafür, sich nicht länger auszuruhen und den Antrag zu stellen.
- Hier ist das Formular für Leute mit bis zu fünf Jahren Aufenthalt im UK.
- Und hier ist das Formular für Leute, die schon länger hier sind.
Robert Rotifer
Und anschließend an diese dringende Empfehlung will ich mir noch eine kleine Beschwerde erlauben.
Ich habe es ja bisher vermieden, hier was über die Selbstzerstörung der Labour Party zu schreiben, die genau in dem Moment, wo das Land eine Opposition dringender braucht denn je, völlig von der Bildfläche verschwindet.
Während die Tories sich in aller Ruhe die Macht aufteilen, wartet Labour lieber auf seine kommende Kampfabstimmung über den Parteivorsitz und führt inzwischen den zermürbenden innerparteilichen Krieg zwischen der in sich ihrerseits in Anhänger von Angela Eagle und Owen Smith spaltenden Parlamentsfraktion und den beharrlichen Corbynistas in der Basis.
Deren Plattform "Momentum" wiederum wird von ihren Gegner_innen des trotzkistischen Entrismus bezichtigt, auch wenn es in diesem Land heutzutage wohl nicht einmal so viele Leute gibt, die je von Trotzki gehört haben, wie seit dem Referendum der Labour Party beigetreten sind (130.000 nämlich, was die Mitgliederzahl dieser laut medialer Darstellung im Sterben liegenden Partei auf beachtliche 600.000 ansteigen hat lassen).
Ein andernmal erzähl ich dann auch die Geschichte von der völlig absurden Veränderung des Wahlrechts zur Obmann/frau-Wahl (alle erst seit sechs Monaten eingeschriebenen Mitglieder werden rückwirkend ausgenommen, während solche, die jetzt vor der Wahl noch schnell 25 Pfund spenden, sehr wohl mitstimmen dürfen).
Erwähnt sei indessen nur, dass ich das hier gerade an dem Abend schreibe, wo Tausende versuchen, sich online zu registrieren und an einer überforderten Labour-Website scheitern.
Und während einer wie Ben Watt (der von Everything But The Girl), gänzlich unverdächtig der trotzkistischen Unterwanderung, per Tweet Erklärung dafür sucht, warum er für ein Recht, das er schon einmal hatte, nun noch einmal 25 Pfund bezahlen soll.
Ben Watt Twitter
Um einmal kurz auf das Thema Aufenhaltsrecht zurückzukommen, man kann sich vorstellen: Wer derart mit den eigenen Mitgliedern umgeht, wird auch wenig Zeit oder Lust haben, sich mit den Unannehmlichkeiten von EU-Bürger_innen ohne Wahlrecht auseinander zu setzen.
Das überrascht mich also nicht, ja ärgert mich kaum mehr. Dass die große Labour-Bewegung sich letztlich immer als eine nationale Angelegenheit begreift, war mir vorher schon aufgefallen.
Verblüfft hat mich aber, wie bereitwillig sich sowohl die Parteilinke als auch die linksliberale Journaille in unzähligen Kommentaren und Tweets auf die Diagnose "g'schehn is g'schehn" einigt und jede Gegenwehr gegen ein mit Lügen erreichtes Abstimmungsergebnis für sinnlos, ja "undemokratisch" erklärt.
Siehe im Unterschied dazu die Aktion von Greenpeace, das den mit der Lüge der Umleitung von erfundenen 350 Millionen Pfund EU-Mitgliedsbeitrag pro Woche ins britische Gesundheitssystem geschmückten, roten Wahlkampf-Bus der "Leave"-Kampagne gekauft hat.
Greenpeace Twitter
Nichts dergleichen kommt von Labours Seite. Einzig der Kandidat Owen Smith hat die Möglichkeit eines zweiten Referendums angesprochen, stieß damit aber auf wenig Enthusiasmus unter den angeblichen "Remain"-Befürworter_innen in der Labour Party.
Nun verstehe ich ja das Argument, dass es der Demokratie schadet, wenn man einmal gefällte Entscheidungen einfach noch einmal aufrollt (hallo Österreich).
Aber es ginge ja auch anders.
Man könnte zum Beispiel Neuwahlen fordern, die ohne Wahl zum Premierministerinnenamt gekommene Theresa May so unter Legitimationsdruck setzen und den Wahlkampf mit dem Versprechen auf eine zweite Abstimmung führen.
48 Prozent der Brit_innen sollten dafür empfänglich sein. Weit mehr, als man braucht, um in Großbritannien eine Wahl zu gewinnen.
Aber das, so heißt es, würde Labour seine beim Referendum auf Brexit-Seite fremdgegangene alte Stammwähler_innenschaft im Norden Englands vollends vergraulen.
Selbst wenn diese Leute sich für dumm verkaufen ließen, und das immer noch nicht begriffen haben, erklärt sich die Labour Party außer Stande, sie aufzuklären und zu überzeugen.
Besser man sagt: Wir sehen die Gründe, warum ihr für einen Austritt gestimmt habt, und wir respektieren sie, selbst wenn sie die falschen waren. Damit zeigen wir, dass wir eure Sorgen verstehen (Österreicher_innen kennen das).
Tatsächlich tut man was ganz anderes:
Man gibt ihnen (und indirekt UKIP) recht.
Nur nebenbei bemerke ich dabei noch, dass die persönlichen Konsequenzen, mit denen unsereiner zu rechnen hat, im Kalkül der einzig an sich selbst interessierten britischen Linken genauso wenig vorkommen, wie all die anderen emotionellen und materiellen Folgen des Brexit-Votums.
Von bereits eingebremsten EU-Förder-Projekten in Kunst und Wissenschaft bis zum heute angekündigten Verkauf des alle iPhones und die Hälfte aller Android-Tablets ausstattenden britischen Microchip-Riesen ARM Holdings an die japanische Softbank - hier dazu übrigens das Statement von Acorn-Co-Begründer Hermann Hauser.
Ganz zu schweigen von dem bisschen weltpolitischen Zusammenhang, dem bisschen Neo-Nationalismus überall in Europa, von dem man sich durch den eigenen Nationalismus zu isolieren glaubt.
Arm ist das eigentlich, ganz schön arm.