Erstellt am: 18. 7. 2016 - 16:23 Uhr
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Irgendwann gegen Montagmittag werden auch die letzten Dancer und Lover vom pragmatisch betitelten „Sleepless Floor“ getaumelt sein. Taumeln vor Euphorie, taumeln vor Erschöpfung.
Gut dreieinhalb bis vier Tage und Nächte hat sich vergangenes Wochenende das deutsche Melt! Festival auf fünf bis sieben (je nach zeitabhängigem Bespielungsgrad) Konzertbühnen und DJ-Stages dem Versprühen von Freude gewidmet. Es ist wahr.
Christian Hedel
Gut 20.000 Menschen waren da, in Ferropolis, der „Stadt aus Eisen“ nahe des Städtchens Gräfenhainichen. Immer noch stehen in dem auf einer Halbinsel gelegenen ehemaligen Kohlefördergebiet imposant gigantische Fördergeräte als Kulisse herum und wollen nicht aufhören, interessant zu sein. Nun geht es auf einem Musikfestival neben Atmosphäre aber auch um Musik. Falls es jemand vergessen hat - vom Melt! Festival darf man jedes Jahr aufs Neue daran erinnert werden.
Thomas Quack
Auch heuer hat das Festival einen wilden Stilmix aufgefahren, der Vergleichbares sucht. Dominant rahmen viele, viele DJs das Bandprogramm: Von Neo-Disco über Schmuse-House und Dubstep nach Bergwerks-Techno ist da so ziemlich alles drin. Einige Höhepunkte dieses Jahr an den Plattentellern: Helena Hauff, The Black Madonna, Motor City Drum Ensemble, Bestrafer Ben Klock, DJ Phono, Horse Meat Disco, Laurel Halo. Die Liste hört nicht auf.
Die amerikanische Elektronikerin Laurel Halo ist mit einem unerwartet tanzbaren und funky Set auf der wie jedes Jahr von den Berlinern Modeselektor kuratierten Melt! Selektor Stage aufgetreten, quasi einem Mini-Festival im Festival.
Stephan Flad
Vom einstigen Austragungsort unten am Strand ist die Melt! Selektor Stage dieses Jahr in eine brandneue Location gewandert: Ein U-förmiger, von Beton umkleideter Innenhof, der mit seinem groben, industriellen Charme besser zu Modeselektor passt.
Die zwei Herren haben da wieder eine abenteuerliche Abfolge an Musiken zusammenprogrammiert: Scharfer 4/4-Techno von Shed, Echoraum-Vermessungen von Bass-Minister Kode9, der Hardcore-Noise-Rap des Duos Ho99o9, die Postrock-goes-Dance-Combo Vessels oder den englischen Producer Gold Panda, der nach früheren vertrackten, verästelten Elektronika-Arbeiten mittlerweile auch minimalistischer und direkter auf den Floor zielt. Als geheimen Suprise-Act gab es Modeselektor selbst mit einem Live-Set.
Auch auf dem Band-Sektor aus dem Feld der größeren Namen auf den beiden Hauptbühnen war dieses Jahr Wunderbares zu erleben: Die australischen Psych-Rocker Tame Impala verzaubern mittlerweile mit John-Lennon-Gedächtnis-Arbeit, Siebziger-Kiffer-Rock und Electric-Light-Orchestra-Disco-Pop souverän die ganz großen Crowds.
Stephan Flad
Wenn das englische Trio Chvrches sein schönes Synthie-Schmalz in die Nacht vergießt und den Hit „The Mother We Share“ mit einem Beinahe-Acappella einleitet, dann werden im Publikum schon mal zwei Tränen zerdrückt. Und bei „Midnight City“ von M83 gibt es bekanntlich kaum ein Halten im Gemüt. Muss einem ja auch erst einmal einfallen, so eine geil alberne Quatsch-Melodie: Dü-dü-dü-dü.
Neben Feinschmeckermusik hat aber wieder einmal eine Crew, die gefühlt auf zwei Festivals täglich - gleichzeitig - auftritt, nahezu das komplette Melt! zum Glühen gebracht. Wie heißt die Band, die die Party rockt? Vielleicht ist bei Deichkind die Musik nicht gar sooo wichtig, verlässlich zerlegen sie aber ohne Gnade jede Veranstaltung. So auch das Melt!. Zudem zum Glück geil: Peaches, Two Door Cinema Club, Jamie xx, Floating Points.
Stephan Flad
Musik ist also mehr als okay, jedoch, jedoch: Auch in Stylefragen und im Körper-Department bewegt sich das Melt! immer weit vorn an der Kante Richtung Morgen. Die sensationell international zusammengewürfelte Crowd ist notorisch gut angezogen bzw. müssen nach einem mehrtägigen Melt!-Besuch die eigenen Parameter in der Wahrnehmung hinsichtlich gutem und besserem Fashion-Feeling immer wieder neu justiert werden. Hält frisch.
Die runde, verspiegelte Sonnenbrille hat sich dieses Jahr endgültig als Status Quo etabliert, bei Frauen wie Männern, insgesamt wird jetzt aber so richtig in den 90ern gefischt: Normcore Supreme in Sandaletten, poppermäßige Sportswear an Menschen, die keine Sportler sind (trotzdem beste Bodys), ungünstig funkelnde Ballonseide-Trainingsjacken in den Trendfarben Lacktürkis und Bischofslila. Aber auch keck entwendete Goth- und Industrial-Symbolik oder schnieker Mod-Style am Berghain-Raver.
Stephan Flad
Bei jungen Frauen setzt sich das Thema „bauchfrei“ wieder stark durch, bei den Herren deutet sich leise eine Rückkehr des hundsgemeinen Ponytails (also auch bei coolen Leuten) an. Muss nicht sein. Manbun wurde jedoch kein einziger gesichtet. So weit vorne ist das Melt!.
In anderen konzeptionellen Zusammenhängen und Umgebungen müsste man sich angesichts all dieser selbstinszenatorischen Pracht immer wieder mal die alte Frage stellen, ob man es hier mit besonders egal und von Mutter eingekleideten Normalos oder schon mit rätselhaft avantgardistisch operierenden Kunstmenschen zu tun habe. Wie wir kucken, wie wir labern.
Steve Klemm
Es ist also alles eine Freude. Und freundlich ist es auch alles: „Free Hugs“ muss sich hier niemand auf ein blödes Schild schreiben. Man feiert den Groove, das Leben im Rave und schenkt einander das wärmende Gefühl.
Und wenn dann zum Beispiel ein zärtlicher Meister wie DJ Koze am Samstagmorgen mit seinem Set tatsächlich die Sonne als pralle Apfelsine über dem Wasser aufgehen lässt, dann liegt man sich nur gerne in den Armen. Ein Set voll feinmaschiger House Music, beseelt von Soul. Ein Set, das - es muss so gewesen sein - die Bewegungsabläufe der Sonne zu kontrollieren im Stande gewesen ist. Ein Set als Statement für die Liebe zur Musik.
Thomas Quack